Ziffernblatt einer Uhr aus Muscheln gelegt an einem Sandstrand
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Soziologie
Welche Bedeutung Zeit für die Gesellschaft hat

Sind das Soziale und die Gesellschaft nur als zeitliche Phänomene zu begreifen? Unser Autor beleuchtet die Zeitstrukturen der Moderne und Spätmoderne.

Von Andreas Reckwitz 16.12.2020

Welcher Stellenwert der Zeit in der Perspektive der Soziologie zukommt, ist alles andere als selbstverständlich. Drei generelle Zeitkonzepte lassen sich unterscheiden, die das soziologische Denken beeinflusst haben: ein objektivistisches, ein subjektivistisches und ein praxeologisch-prozesshaftes.

Das objektivistische Modell der Zeit leitet sich von Newton ab: Die Zeit erscheint hier wie eine neutrale Rahmenbedingung allen Geschehens. Alles Soziale findet dann in der Zeit statt, es läuft ab vor dem Hintergrund einer messbaren Zeit von Tagen, Monaten, Jahren, Jahrzehnten. Dieser Objektivismus der Zeit hat zunächst alle modernen Wissenschaften geprägt. Aber die Zeit scheint hier der Sozialwelt vorgelagert, wie ein Container für das Soziale, der selbst nicht sozial ist.

Das Gegenmodell hierzu findet sich im subjektivistischen und sozialkonstruktivistischen Zeitverständnis: Bei Immanuel Kant wird philosophisch deutlich, dass Zeit eine subjektive Kategorie ist, mit deren Hilfe das Subjekt die Welt erfasst. Dies weiterführend, wird bei Émile Durkheim soziologisch sichtbar, dass Zeit erst in sozial-kulturellen Kategorien von Zeit existiert. Gesellschaften unterscheiden sich dann voneinander in ihrem Zeitverständnis, in ihren Vorstellungen einer Linearität oder ­Zyklik der Geschichte etwa oder in ihren kulturellen Modellen von Biografie und Lebenslauf. "Die" Zeit gibt es also gar nicht, sondern diverse soziale Zeitlichkeiten.

Das praxeologische und prozesshafte Zeitverständnis geht noch einen Schritt weiter: Zeit ist aus dieser Sicht mehr als eine soziale Kategorie in den Köpfen oder Diskursen, die soziale Praxis selbst ist jeweils in ihrer Prozesshaftigkeit zeitlich strukturiert. Soziale Praktiken enthalten jeweils ihre spezifische zeitliche Rhythmik, sie "verzeitlichen" auf ihre Weise und bilden soziale "Zeitregime": Moderne Arbeitsformen in der Fabrik oder im Coworkingspace sind so etwa durch bestimmte Muster der strikten Wiederholung oder der Abwechslung zwischen Einzelarbeit und Kommunikationsarbeit strukturiert, durch eine spezifische Antizipation von Zukunft und eine Erinnerung der Vergangenheit. Die Zeit ist so nicht nur eine kulturelle Konstruktion, sie ist tatsächlich "objektiv". Aber objektiv ist sie in der Strukturierung der Prozesshaftigkeit sozialer Praxis. Jedes soziale Phänomen – von der Paarbeziehung bis zum globalen Kapitalismus, von der Lebensform der neuen Mittelklasse bis zum Wissenschaftsfeld – enthält so sein eigenes Zeitregime. Dies umfasst häufig auch spezialisierte Zeitpraktiken wie das Schreiben von Tagebüchern, die Inszenierung von Vergangenheit in Museen, die Verwendung einer Stechuhr oder die politische Planung in Form von Mehrjahresplänen.

Rationalisierung der Zeit als Merkmal der Moderne

Zeitlichkeit kann so für die Soziologie weder ein neutraler Hintergrund für das Soziale noch ein Spezialproblem sein, sie ist ein Querschnittsphänomen der sozialen Welt. Aber was kann man dann über die Temporalität in den modernen Gesellschaften aussagen? Indem sich die Soziologie auf die Gesellschaften konzentriert, die in Europa und Nordamerika im 18. Jahrhundert mit der Industrialisierung, Verwissenschaftlichung und Demokratisierung entstanden sind, lenkt sie ihren Blick primär auf die Zeitlichkeit dieser Moderne. Diese hat allerdings selbst bereits eine Geschichte: Von der bürgerlichen Moderne des 19. Jahrhundert hat sie sich über die industrielle Moderne des 20. Jahrhunderts bis zur Spät- oder Postmoderne der Gegenwart (seit den 1980er Jahren) umgewälzt. Grundlegend für die Temporalstrukturen der Moderne insgesamt ist eine Rationalisierung der Zeit. Max Weber machte im Zentrum der Moderne zu Recht die Herrschaft der Zweck-Mittel-Rationalität aus, wie sie in der industriellen Moderne ihren Höhepunkt erreicht. Diese formale Rationalität betrifft jedoch auch und gerade die Zeitlichkeit.

Mit der Zeitsoziologin Barbara Adam umfasst diese typisch moderne Rationalisierung der Zeit vier Merkmale: 1. Kontrolle: In den Praktiken moderner sozialer Felder und Lebensformen wird die Zeit häufig einer mehr oder minder strikten Kontrolle unterworfen; Pünktlichkeit, effiziente Ausnutzung und verlässliche Synchronisierung verschiedener Abläufe in der Zeit werden so zu zentralen Zielen, die Zeit wird standardisiert, reguliert und quantifiziert. 2. Kommodifizierung: In der Moderne gilt "Zeit ist Geld". Zeit avanciert so zu einer knappen Ressource, mit der der Kapitalismus rechnen muss. Zeit avanciert so auch zu einem Konfliktfeld zwischen Kapital und Arbeit und die extensive Ausnutzung von Zeit ist zentral. ­3. Kompression: Die Moderne steigert – häufig vom Effizienzstreben angetrieben – das Tempo der Zeit, sie forciert eine unerhörte Beschleunigung: Es sollen mehr Ereignisse in die gleiche Zeitspanne hineinpassen, so dass die Zeit "komprimiert" erscheint. 4. Kolonialisierung: Die Moderne basiert auf einer Kolonialisierung der Zukunft. Generell ist das moderne Zeitverständnis zukunftsorientiert. Die Zukunft erscheint, häufig angeleitet von Vorstellungen von Fortschritt und Gestaltbarkeit, steuerbar. Sie hängt ab von den Entscheidungen der Gegenwart und soll idealerweise zum Gegenstand der Planung werden.

Kontrolle, Kommodifizierung, Kompression und Kolonialisierung – damit sind vier Grundparameter der Rationalisierung in der Moderne benannt. Der Modernisierungsprozess ist damit zweifellos ein Rationalisierungsprozess von Zeitlichkeit – von den einen gefeiert, von den anderen kulturkritisch beklagt. Aber ist damit schon alles über die moderne Zeitlichkeit gesagt? Nein, denn die Moderne fügt sich nicht in ein uni­lineares Narrativ der Modernisierung, sie ist mehrdimensional und konflikthaft. Dies war sie von Anfang an, wird jedoch in der Spätmoderne besonders deutlich. Diese Konflikthaftigkeit betrifft auch und gerade ihre Zeitlichkeit. Es stellt sich eine prägende Gegentendenz zur Rationalisierung der Zeit heraus: die Intensivierung des Zeiterlebens.

Intensivierung des ­Zeit­erlebens

Die Intensivierung des Zeiterlebens einzelner Momente oder auch längerer Zeitspannen als Gegentendenz gegen den Rationalismus der "extensiven" Zeitbewirtschaftung gibt es bereits seit der Romantik und ihrem "Momentanismus" der Zeit: Die Orientierung an der Erfülltheit des singulären Moments, etwa in der Kunst, der Naturerfahrung oder der romantischen Liebe, ist selbst eine charakteristisch moderne Praxis seit 1800. Mittlerweile handelt es sich jedoch längst nicht mehr um ein Randphänomen ästhetischer Erfahrung von künstlerischen Subkulturen.

Die Intensivierung der Zeit, die emotionale und sinnliche Fokussierung auf das, was Helga Nowotny die "erweiterte Gegenwart" nennt, ist vielmehr in der Spätmoderne zum strukturierenden Merkmal vieler sozialer Praktiken geworden. Vom "Flow"-Moment konzentrierter Arbeit – ob allein oder im gemeinsamen Projekt – über die erlebte Zeit von Events, Netflix-Serien und  "besonderen Momenten" des Reisens bis zur quality time der Partnerschaften und Familien –, es scheint, dass das wesentliche Ziel spätmoderner Lebensformen darin besteht, die Erfahrung der Zeit in der Präsenz des gegenwärtigen Moments – lediglich einer Sekunde oder vieler Wochen – zu intensivieren.

Zeitlichkeit wird damit fluider, variabler, spannungsreicher, weniger durchgetaktet: Dies unterscheidet etwa die Projektarbeit von der Fließbandarbeit. Ein solches Zeitregime erscheint häufig an jenen kreativ-experimentellen Umgang mit der Zeit gekoppelt, den Karl Hörning als charakteristisch für die Subjektfigur des "zeitjonglierenden Spielers" der Spätmoderne ausmacht. Das Zeitregime der Intensivierung der Zeit ist gegenüber dem der Rationalisierung der Zeit in vieler Hinsicht konträr aufgebaut: Setzt letztere auf die Strukturierung des zielgerichteten Handelns, auf emotionsarme Sachlichkeit, auf allgemeine Regeln und die Herrschaft des Zweckhaften, richtet sich erstere auf das subjektive Erleben, das affektiv aufgeladen ist, auf die Prämierung des Besonderen und wirkt identitätsstiftend.

Die Zeitlichkeit der spätmodernen Gegenwart wird von diesem Doppel von Rationalisierung und Intensivierung geprägt, das schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in der Moderne angelegt ist. Während in der bürgerlichen Moderne freilich die Stechuhr und Goethes "Verweile doch! du bist so schön!" schroff nebeneinanderstanden, sind die spätmodernen Lebensformen, etwa in der Wissens- und Kreativarbeit, der zeitgenössischen Familie und Partnerschaft oder in der Freizeit, durch die spannungsreiche Verbindung des Gegensätzlichen geprägt: Planung und Erlebnisorientierung, Zeitoptimierung und "Flow", zweckvolle Synchronisierung und Immersion. Aus dieser widersprüchlichen Erwartungsstruktur gewinnt das spätmoderne Zeitregime seine Dynamik.