

Biodiversität
Weltbiodiversitätsrat fordert Mut zum Wandel
Ganzheitliche Handlungsansätze können globale Krisen wie Artensterben, Verschmutzung und Erderwärmung überwinden. Das geht aus zwei Berichten hervor, die der Weltbiodiversitätsrat (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES) verabschiedet und veröffentlicht hat.
Der "Nexus-Bericht" befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen Biodiversität, Wasserverfügbarkeit, Ernährungssicherheit, Gesundheit und dem Klimawandel. Der IPBES-Bericht zu transformativem Wandel legt dar, wie ein grundlegender Systemwandel in Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft hin zu einer nachhaltigen und gerechteren Welt gelingen kann. Bestehende Wirtschaftsmodelle und vorherrschende Denkweisen tragen laut Bericht maßgeblich dazu bei, dass sich Ursachen für den Biodiversitätsverlust und die Zerstörung natürlicher Ökosysteme verfestigen. Nachhaltige Ansätze könnten bis 2030 weltweit 10 Billionen US-Dollar generieren und 395 Millionen Arbeitsplätze sichern.
Dazu erklärt Bundesforschungsminister Cem Özdemir: "Die Berichte des Weltbiodiversitätsrates sind Rückenwind für eine starke Forschung, auch bei uns in Deutschland, damit wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen auch in den nächsten Jahrzehnten sichern können." Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstütze gezielt nationale und internationale Forschungsinitiativen beispielsweise über die Strategie zur Forschung für Nachhaltigkeit (FONA). "Bei den sich gegenseitig verstärkenden Umweltkrisen ist dringender Handlungsbedarf angezeigt", ergänzt Bundesumweltministerin Steffi Lemke.
Ursachen des Biodiversitätsverlusts und Transformationsideen
Eine globale Bestandsaufnahme des Weltbiodiversitätsrates aus dem Jahr 2019 erkannte eine Million Arten der geschätzt acht Millionen Arten weltweit als bedroht an. Als Hauptursachen für den Biodiversitätsverlust nennen die Expertinnen und Experten die Übernutzung natürlicher Ressourcen, die zunehmende Entfremdung der Menschen von der Natur, die ungleiche Verteilung von Macht und Wohlstand sowie die Fokussierung auf kurzfristige, materielle und individuelle Vorteile. Lösungen fußten stattdessen auf den Prinzipien Fairness und Rechtmäßigkeit, Pluralismus und Inklusion, respektvollen und wechselseitigen Mensch-Natur-Beziehungen sowie adaptivem Lernen und Handeln.
Zu den vorgeschlagenen Maßnahmen gehört die Umgestaltung der Sektoren Landwirtschaft, Fischerei, Forstwirtschaft, Infrastruktur und Stadtentwicklung, da sie maßgeblich für den Rückgang der Natur verantwortlich sind. Hinzu kommt als Kernstrategie ein nachhaltiger, gezielter Naturschutz. "Das Hinauszögern von Maßnahmen zur Erreichung globaler Nachhaltigkeit ist kostspielig im Vergleich zu den Vorteilen, die sich ergeben, wenn jetzt gehandelt wird", heißt es im Bericht.
Gemeinsame positive Visionen und deren Entwicklung seien für eine gelungene Transformation besonders wichtig. Vom Staat seien unter anderem Politikkohärenz, strengere Regulierungen im Bereich Naturschutz sowie innovative wirtschaftliche und fiskalische Instrumente gefordert.
Hintergrund der Berichte
Der Weltbiodiversitätsrat ist ein zwischenstaatliches Gremium zur wissenschaftlichen Politikberatung für die Themen biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen. Er wurde 2012 gegründet. Aktuell sind 147 Staaten Mitglied. An den beiden IPBES-Berichten wirkten über den Zeitraum von drei Jahren jeweils über 100 internationale Expertinnen und Experten aus 42 Ländern – darunter auch Deutschland – mit. Sie haben mehr als 7.000 wissenschaftliche Studien ausgewertet.
Im Transformationsbericht wurden fünf Kernstrategien für den transformativen Wandel erarbeitet, die sich an Regierungen, die Zivilgesellschaft und den Privatsektor richten. Ein solcher Wandel gilt als entscheidend, um die 23 handlungsorientierten Ziele des Abkommens von Montréal zu erreichen. Unter anderem sollen demnach bis 2030 mindestens 30 Prozent der weltweiten Land-, Wasser- und Meeresflächen unter Schutz gestellt werden.
Reaktionen und Einschätzungen aus der Wissenschaft
Dr. Thomas Bruhn vom Potsdamer Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) äußert gegenüber "Science Media Center" Bedenken, dass Profiteure des Status Quo zu solchen Transformationsansätzen bereit wären: "Ich halte es daher für besonders wichtig und an dieser Stelle noch zu wenig beleuchtet, auf welche Weise gerade solche Akteure konstruktiv integriert werden können."
Solveig Richter ist Professorin für Internationale Beziehungen und transnationale Politik an der Universität Leipzig sowie Friedens- und Konfliktforscherin am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv). Für sie ist der inklusive Ansatz des Transformationsberichts maßgeblich, der das Verhältnis von Natur und Mensch stärker in den Mittelpunkt rückt. "Wichtig erscheint mir dabei auch die Anerkennung unterschiedlicher Werte- und Wissenssysteme", führt sie auf Anfrage von SCM weiter aus. "In der Konsequenz heißt dies auch für die Wissenschaft eine stärkere interdisziplinäre Ausrichtung", sagt die Konfliktforscherin.
"In der Konsequenz heißt dies auch für die Wissenschaft eine stärkere interdisziplinäre Ausrichtung."
Solveig Richter, Professorin an der Universität Leipzig
Matthias Glaubrecht ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und leitet das Projekt "Evolutioneum" am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Für ihn hängt die Umsetzbarkeit der empfohlenen Maßnahmen eng zusammen mit der gesellschaftlichen Akzeptanz. So zutreffend die Pfadbeschreibung im Bericht sei, so gewaltig sei diese Aufgabe. Es wäre aber falsch, dem Bericht vorzuwerfen, hier weniger konkret zu bleiben als bei der Analyse.
Professor Tobias Plieninger ist Leitautor im Transformative Change-Assessment des Weltbiodiversitätsrat sowie Leiter des Fachgebiets "Sozial-ökologische Interaktionen in Agrarsystemen" an den Universitäten Kassel und Göttingen. Er betont: "Mit unserem Bericht versuchen wir aufzuzeigen, dass transformativer Wandel möglich ist, dass gesellschaftlicher Fortschritt auch in der Vergangenheit durch solche Veränderungen vorangebracht wurde und dass eine Transformation zur Nachhaltigkeit auch unsere Lebensqualität massiv verbessern kann." Transformativer Wandel erfordere Mut zu Veränderungen, an dem es unseren von den vielen Krisen unserer Zeit ermüdeten Gesellschaften derzeit etwas fehle.
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