Blick auf den Alexanderplatz mit Fahrrädern, Fußgängern, Gebäuden, Baukränen.
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Stadtsoziologie
Werden Städte nachhaltiger, digitaler und lebenswerter?

In Deutschland bestimmen räumliche Fragmentierungen und soziale Ungleichheiten den urbanen Raum. Wie kann dies verbessert werden?

Von Annette Spellerberg 05.01.2023

Städte sind nicht zuletzt wegen ihrer ökonomischen Pfade und Funktionen ausgesprochen vielfältig. Die altindustriell geprägten Städte in Westdeutschland haben beispielsweise nach wie vor die Folgen des Strukturwandels zu bewältigen, die Städte in Ostdeutschland sind aufgrund von Abwanderung und Großsiedlungen in spezifischer Weise gefordert, und süddeutsche Städte übertragen häufig ihren Wachstumsdruck in das Umland. Die Zunahme sozialräumlicher Ungleichheiten, Re- und Suburbanisierung und die Internationalisierung gelten als allgemeine Trends des letzten Jahrzehnts. Sie werden hier kurz skizziert, bevor das in der Neuen Leipzig Charta formulierte Leitbild der sozial gerechten, nachhaltigen und produktiven Stadt dargelegt wird, das die Zukunft der Stadt maßgeblich prägen soll.

Die Entwicklung der Siedlungsstrukturen

Die Reurbanisierung beschreibt den Trend des Bevölkerungswachstums in Ballungsräumen in den ersten 15 Jahren dieses Jahrhunderts. Damit ist der Anstieg der Bevölkerung in Städten im Vergleich zu dünner besiedelten Räumen gemeint, die tendenziell Bevölkerung verloren hatten. Zudem nahm der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Städten deutlich zu, insbesondere stieg der Anteil der Beschäftigten mit Hochschulabschluss. Mit dem Übergang in die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft konnte nicht nur ein Bevölkerungszuwachs, sondern auch ein ökonomischer Boom in Städten beobachtet werden.

"'Stadtluft macht frei' bleibt ein wesentliches Motiv für einen Umzug in die Stadt."

Die soziale und kulturelle Vielfalt in urbanen gemischten Quartieren, die Ausbildung von Subkulturen, persönliche Entfaltungsmöglickeiten und Lebenschancen, Spannungserlebnisse und städtische Atmosphären ziehen viele Menschen an. Die Anonymität in den sozialen Beziehungen und die flexibleren Möglichkeiten, in Kontakt zu treten, sind Grundbedingungen städtischen Lebens und Grundlage für Emanzipationsprozesse, die auch weiterhin zur Attraktivität städtischen Lebens beitragen werden. "Stadtluft macht frei" bleibt ein wesentliches Motiv für einen Umzug in die Stadt – vor allem aus internationaler Perspektive.

In Deutschland hat nicht nur das Wachstum der Bevölkerung in sogenannten Schwarmstädten für enorme Engpässe auf dem Wohnungsmarkt geführt. Die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank und die Finanzkrise 2008/09 führten zu einer Wende in Richtung "Betongold". Die Kommunen privatisierten Anfang der 2000er Jahre ihre Bestände, die häufig von großen börsennotierten privaten Wohnungsunternehmen gekauft wurden. Durch weitere Übernahmen ist innerhalb von nur 20 Jahren das größte Wohnungsunternehmen in Deutschland entstanden, die Vonovia SE mit über 500.000 Wohneinheiten. Städte sorgten für die Rahmenbedingungen der Finanzialisierung des Wohnungsmarktes mit dem Auslaufen von preisgebundenen Wohnungen, dem Umwandeln von Miet- in Eigentumswohnungen, dem höchstbietenden Verkauf von städtischem Boden und der Bereitstellung von Flächen für private Projektentwicklerinnen und Projektentwickler.

Verdrängung und Entmischung in den Innenstädten

Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen können sich innerstädtische Lagen mittlerweile kaum noch leisten, obwohl in Städten massiv neu gebaut wurde. Auch der öffentliche Raum in der Innenstadt wird exklusiver und ist zunehmend für den Elitekonsum gedacht.

Eine Verdrängung von weniger Privilegierten und eine soziale Entmischung in den Innenstädten ist die Folge, die zu zahlreichen städtischen Konflikten und Protestaktionen führt (zum Beispiel die "Bizim Kiez"-Initiative, Forderungen nach einem Mietpreisdeckel oder nach einer Mietpreisbremse, nach einem Recht auf Stadt bis hin zur Initiative "Deutsche Wohnen enteignen"). Mit Segregation, also der ungleichen Verteilung sozialer Gruppen im Stadtraum, beziehungsweise der Konzentration sozialer Gruppen in bestimmten Quartieren, ist die andauernde Sorge um den sozialen Zusammenhalt der Stadtgesellschaft insgesamt sowie die Beeinträchtigung von Lebenschancen in benachteiligten Quartieren verbunden.

In der Situation steigender Preise und geforderter sozialer Distanz in der Covid-19-Pandemie ist seit etwa 2015 eine verstärkte Suburbanisierung zu beobachten. Die Krisen auf dem Wohnungsmarkt sind dabei in die weniger urbanen Räume übergeschwappt – und verstärken dort Problemlagen, zum Beispiel fehlende Miet- und Geschosswohnungen, Preissteigerungen und Flächenfraß. Suburbanes Leben und Stadtlandschaften sind – auch im internationalen Maßstab – eine zentrale Tendenz der Siedlungsentwicklung, die dem Leitbild einer dichten, kompakten Stadt entgegenläuft.

Migration – Integration

Ethnische Merkmale, Nationalität und Aufenthaltstitel sind mit sozialen Ungleichheiten verwoben und schreiben sich in Stadtstrukturen ein. Migrantisch geprägte Viertel sind teilweise diskreditierte Gebiete, werden von den Bewohnerinnen und Bewohnern jedoch häufig positiv bewertet – sie sind dort zu Hause, haben sich beheimatet, sind vernetzt, haben Freunde gefunden, etablieren kulturelle Einrichtungen und entwickeln Ökonomien, die auch von der sogenannten Aufnahmegesellschaft geschätzt werden. Wie Walter Siebel in zahlreichen Veröffentlichungen fordert, ist es für die Entwicklung der Städte in eine sozial gerechtere Richtung notwendig, migrantisch geprägte Viertel vorsichtig aufzuwerten und sehr gute soziale Infrastrukturen (beispielsweise Kindergärten und Schulen) anzusiedeln. Ein positiver Trend wäre, wenn Diskriminierungen auf dem Wohnungs-, Bildungs- und Arbeitsmarkt nachlassen würden, um eine weitere Auseinanderentwicklung verschiedener städtischer Teilräume zu verhindern.

Trotz der privatwirtschaftlichen Verwertungsinteressen auf dem Wohnungsmarkt sind bedürfnisgerechte Wohnverhältnisse nachhaltig sicherzustellen, auch für die Zugewanderten. Ihre Präferenzen in der Entwicklung der Stadt von morgen hörbarer, sichtbarer und fühlbarer zu machen, ist eine aktuelle Aufgabe für eine sozial gerechte Weiterentwicklung der Stadtgesellschaft (vgl. verschiedene Beiträge in der stadtsoziologischen Zeitschrift "sub\urban").

Digitalisierung und ihre Folgen für die Innenstädte

Der Online-Handel stellt die zentrale Funktion von Innenstädten – das Einkaufen und den spezialisierten Einzelhandel – in Frage. Auch plattformvermittelte Dienstleistungen verändern die Nutzung städtischer Räume, wie beispielsweise Helpling, Lieferando, Uber, AirBnB und WeWork, die verschiedenartige Dienstleistungen in neuer Form anbieten. Das erst seit etwa einem Jahrzehnt existente mobile Internet verändert die Bewegungen im Raum (etwa durch spontane Verabredungen oder Chatten beim Laufen). Homeoffice ermöglicht das Arbeiten von zu Hause aus, so dass Büroarbeitsplätze reduziert werden und die städtischen Angebote weniger wahrgenommen werden.

"Als neue Anker in den Stadtzentren gelten Wohnen, Bildung, Handwerk und Dienstleistungen."

Corona hat darüber hinaus die Gastronomie und auch den Kulturbereich stark erschüttert, die Einrichtungen ringen um Besucher. Innenstädte dienen weiterhin als Treffpunkte (in Cafés, in Restaurants, beim Einkaufen, beim Sport, bei Freizeit und Kultur und zum Zeitvertreib), Anpassungen sind jedoch erforderlich, um Leerstände zu vermeiden und Angebote zu konzentrieren. Als neue Anker in den Stadtzentren gelten Wohnen, Bildung, Handwerk und Dienstleistungen, die jedoch weniger renditestark als der Handel sind, wie die Akademie für Raumentwicklung (ARL) festhält. Setzt sich der Trend fort, Wohnen und Erwerbsarbeit wieder stärker miteinander zu vernetzen, wird das Stadtviertel für den Alltag in Städten eine deutlich stärkere Bedeutung haben und Aufwertungen erfahren.

Es stellt sich die Frage, welche Städte es schaffen, dem Attraktivitätsverlust entgegenzutreten. Es ist anzunehmen, dass die kommunalen Haushalte einen entscheidenden Einfluss ausüben, so dass in Folge eine Auseinanderentwicklung städtischer Attraktivität zu erwarten ist. Eine krisenhafte Entwicklung kann durch verschiedene Faktoren entstehen: Neben mangelnden finanziellen und personellen Ressourcen (Fachpersonal) sind fehlender Gestaltungswille (Bodenpolitik), Reaktanz in der Bevölkerung (Abwehr gegenüber Fremden, Rechtspopulismus) sowie Überforderung aufgrund steigender Armut, forcierter Zuwanderung und nicht gelingender Integration zu nennen. Die Abwanderung der Mittelschichten aus den urbanen Zentren, die Verlagerung des Arbeitsplatzes ins Homeoffice, urbane Entdichtung und der Zusammenbruch städtischer Kulturen sind nicht auszuschließen.

Die Neue Leipzig Charta als Leitbild

Die EU hat sich mit der Neuen Leipzig Charta im Jahre 2020 zur Weiterentwicklung der europäischen Stadt in Richtung einer kompakten sowie funktional und sozial gemischten Stadt verpflichtet und fordert die "transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl". Neue Gartenstädte, monofunktionale Großsiedlungen, "Smart Cities" mit Überwachungssystemen (Songdo, Masdar), "Gated Communities" mit Überwachungsanlagen sind theoretisch denkbare Varianten der Stadtentwicklung, werden jedoch nicht als resilient und somit zukunftstauglich erachtet.

"Vorbilder einer sozial gerechteren und nachhaltigen Stadtentwicklung sind sogenannte 'Quartiere der Zukunft'."

Und um die konkrete Utopie einer sozial gerechten, nachhaltigen und ökonomisch prosperierenden Entwicklung zu realisieren, sollen die einzigartigen Innenstädte bewahrt und neue Problemlösungen partizipativ erprobt werden, auch mit digitalen Methoden. Vorbilder einer sozial gerechteren und nachhaltigen Stadtentwicklung sind unter anderem sogenannte "Quartiere der Zukunft", in denen Lösungsansätze erprobt und neue Mitspracheformen etabliert werden. In diesen Quartieren bietet beispielsweise der öffentliche Raum mehr Flächengerechtigkeit und Aufenthaltsqualität und als Genossenschaftsmodell mehr Partizipationsmöglichkeiten (beispielsweise der Möckernkiez in Berlin oder das Hunziker-Areal in Zürich). Die baulichen, sozialen und kulturellen Innovationen weisen den Weg in Richtung einer "15-Minuten-Stadt" mit Funktionsmischung (Arbeit, Wohnen, Freizeit, Nahversorgung, Care) und weiteren Merkmalen wie Seniorenfreundlichkeit, Nachhaltigkeit und gut nutzbare öffentliche Räume, da sie weitgehend autofrei sind. Diese Transformation benötigt jedoch eine anhaltende nachhaltigkeitsorientierte Steuerung.

Städte sind Motoren der gesellschaftlichen Entwicklung, denn auf lokaler Ebene werden die Probleme offenbar, zum Beispiel Armut, Flucht, Umweltprobleme. Der Glaube an den Markt zur Lösung der Probleme beim Wohnen ist derzeit verblasst, zivilgesellschaftliche Initiativen pochen auf Teilhabe und Mitgestaltung, und Solidarität und Fairness gewinnen an Durchsetzungskraft. Richard Sennett hat in seinem neuesten Werk "Die offene Stadt" (2019) angemahnt, die Umgestaltung von Städten als eine handwerkliche, zeitintensive Kunst zu verstehen, und gefordert, den gelebten, von den Bewohnerinnen und Bewohnern geschaffenen Raum zu akzeptieren, Offenheit für Varianten zu ermöglichen und Bescheidenheit bei Planungen an den Tag zu legen. In Anbetracht der sich überlappenden und vielfältigen Krisen bleibt zu fragen, wie viel Zeit den Stadtgesellschaften für die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit, Krisenresilienz, sozialer Gerechtigkeit und eines gesicherten Lebensstandards für alle Bewohnerinnen und Bewohner verbleibt.