Ein symbolischer Tunnel voller Bücher
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Serie: 25 Jahre Forschung & Lehre
Wie Bücher unser Leben verändern können

Gute Bücher prägen ihre Leserinnen und Leser auf ganz verschiedene Weise. Jochen Hörisch spricht über die Kraft des geschriebenen Wortes.

Von Ina Lohaus 03.03.2019

F&L: Gibt es ein Buch, das Ihr Leben verändert hat?

Jochen Hörisch: Ja, in aller Klarheit: Goethes 1809 erschienener Roman Die Wahlverwandtschaften. Dieser unvergleichlich souverän komponierte Roman mit all seinen virtuosen Buchstaben-, Namen- und Zahlenspielen hält überraschend viele ineinander verwobene Motive bereit, die nicht wohlfeil Meinungen wiedergeben, sondern argumentatives Gewicht haben. Der anmutige Roman enthält Zumutungen en masse, die geeignet sind, den common sense gerade von sogenannten Geisteswissenschaftlern in Frage zu stellen. So ist (um nur drei Zumutungen zu nennen) die mit vielen Hermes-Attributen versehene Figur namens Mittler nicht anders zu verstehen denn als Verspottung hermeneutischer und auf Konsens ausgerichteter Geschäftigkeit. Wo immer Mittler vermitteln will, richtet sein guter Wille Unheil an; wenn er auftritt, geht es nicht belebend, sondern lebensbedrohlich zu (Ottilie und der alte Geistliche sterben, alldieweil er redet). Zweitens analysiert Goethes Roman in Zeiten eines starken Comebacks der Religion (damals in Form von Konversionen zum Katholizismus) eben dieses Neuerstarken fundamentalistischer Religiosität als lebensfeindlichen Impuls (Ottilie ist eine seltsame Heilige). Drittens bemüht der Roman systematisch präzise, prägnante Doppeldeutigkeiten, so etwa im berühmten Schlusssatz: "So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen." Wenn, ja wenn, falls… Nach der gründlichen Lektüre dieses besten deutschsprachigen Buches überhaupt sah ich mich veranlasst, mein Denken unter anderem über Hermeneutik, Religion, Eigennamen, Liebe, Natur, Kultur, Zeit, Ökonomie, Sprache, Konsens, Dissens, Romantik, Entscheidbarkeit von Interpretationen und vieles mehr zu ändern. Und zu erkennen, dass großartige Literatur nicht nur Ansichten und Meinungen, sondern reizvolles Wissen bereithält.

Prof. em. Jochen Hörisch
Jochen Hörisch ist emeritierter Professor für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim. privat

F&L: Ist ein literarisches Werk erst dann gut, wenn es den Leser verändert?

Jochen Hörisch: Für Werke, die nur "gut" sind (und es gibt auch in der Gegenwartsliteratur ein Überangebot guter Literatur), muss die Antwort nüchtern, also abschlägig ausfallen: "nein". Das kann ja auch kaum anders sein. Professionelle Vielleser (wie Literaturkritiker, Lektoren, Buchhändler und Germanistikprofessoren) wären nicht nur auf ihre alten Tage allzu gestresst, wenn alle guten Romane, Gedichte und Dramen unablässig ihr Leben radikal verändern würden (also aus einem Lebenslustigen einen Schwermütigen, aus einem Fleischesser einen Veganer, aus einem Konservativen einen Revolutionär, aus einem Humanisten einen Rassisten etc. machen würden). Die Schwelle liegt deutlich niedriger – gute Werke ändern nicht das Leben des Lesers in seinen Grundorientierungen, sie sorgen aber für subtile Modifikationen in seiner Aufmerksamkeitsökonomie, seinen Alltagsstrategien, seinen komplexen Ansichten, seiner Rhetorik oder seinen Interessen. Gute Werke sind so das durchaus musische Hintergrundgeräusch, von dem sich die wenigen überragenden Werke abheben können, die die Kraft haben, den Leser wirklich zu erschüttern und zu ändern.

F&L: Was kann Literatur für Politik und Gesell­schaft bewirken?

Jochen Hörisch: Um die politische und soziale Kompetenz der Dichter ist es nicht verlässlich zum Besten bestellt. Ihre einschlägigen direkten Meinungsäußerungen verdienen nicht mehr Aufmerksamkeit als die von Ingenieuren, Bäckern, Angestellten, Landwirten oder Ärzten. Dennoch bewirkt Literatur viel – gerade dann, wenn sie nicht explizit und schrill for­mu­liert. Sie stellt nämlich An- und Einsichten bereit, die durch interne Stimmigkeit Unwahrscheinliches wahrscheinlich erscheinen lassen. Lieblos, also systemtheoretisch ausgedrückt: Literatur reduziert nicht, sie steigert Komplexität, indem sie alternative Realitätswahrnehmungen bereithält. Und das ist nicht nur in krisenhaften Zeiten eine starke und durchaus funk­tionale Leistung. Aut prodesse volunt aut delectare poetae (Horaz) – und ab und an schaffen sie das sogar.