Schlange vor einem Wahllokal in Berlin
picture alliance/ullstein bild

Hundert Jahre Frauenwahlrecht
Wie Frauen international für ihre Rechte kämpften

Seit dem 12. November 1918 haben Frauen in Deutschland das Wahlrecht, am 19. Januar 1919 durften sie das erste Mal wählen.

Von Gisela Bock 19.01.2019

"Der erste Wahlgang der Frauen. Ziel eines Jahrhunderts – Beginn eines Jahrtausends": So kommentierte die deutsche Frauenbewegungspresse (hier: die Zeitschrift "Die Frau") im März des Jahres 1919 das große Ereignis, dass am 19. Januar die Frauen erstmals auf nationaler Ebene wählen konnten und ihre Wahlbeteiligung – ähnlich wie bei den Männern – über 80 Prozent lag.

Zwei weitere Themen dominierten: Zum einen nahm die Bevölkerung, überraschenderweise und ungeachtet der gleichzeitigen politischen Unruhe, den Wahlakt widerstandslos und geradezu als selbstverständlich an, sodass manchen feministischen Akteurinnen "der ganze Streit um das Frauenwahlrecht aufgebauscht und künstlich" vorkam.

Zum anderen bekannten sich die Feministinnen vorbehaltlos zur Demokratie, die jetzt in Deutschland erstmals etabliert wurde und für die das Frauenwahlrecht ihrer Meinung nach essenziell sei. Die gesamte Frauenbewegung – international hatte sie für das Wahlrecht seit den 1840er Jahren plädiert, in Deutschland besonders seit den 1890ern – sei, so hieß es, nichts anderes "als die Anwendung demokratischer Grundsätze".

Aktives und passives Wahlrecht

Dass das Frauenwahlrecht den "Beginn eines Jahrtausends" markiere, sollte optimistische Zukunftshoffnung ausdrücken, deutet aber auch auf die extreme Langsamkeit der erhofften Entwicklung an. Tatsächlich konnte "Die Frau" schon Anfang 1919 konstatieren, dass faktisch nur das aktive, kaum aber das sogenannte passive Wahlrecht verwirklicht wurde (das überhaupt erst wahre Aktivität ermöglicht).

Denn seit damals – und bis heute – hingen Kandidatur und Wahlerfolg von der Listenplatzierung durch die (Männer der) Parteien ab, und so fanden sich unter den wenigen weiblichen Gewählten sogar einstige heftige Gegnerinnen des Frauenwahlrechts, gar Mitglieder des berüchtigten "Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation". Und während 1919 immerhin acht Prozent der Abgeordneten weiblich waren – im internationalen Vergleich war das beachtlich, ins britische Unterhaus wurde 1919 nur eine einzige Frau gewählt –, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1932, als in Deutschland dreimal gewählt wurde, auf etwa die Hälfte.

Kein Wunder also, dass sich die heutigen Kämpfe auf eine umfassende Erneuerung des passiven Wahlrechts richten, sei es durch mancherlei Quoten, sei es durch eine Politik der "Parität". In Frankreich, wo (ähnlich wie in Griechenland) noch in den 1990er Jahren die parlamentarische Präsenz von Frauen mit sechs Prozent einen europäischen Tiefstand innehatte, führte ein Gesetz zur parité aus dem Jahr 2000 ("Loi tendant à favoriser l'égal accès des femmes et des hommes aux mandats électoraux et fonctions électives") zu einem beachtlichen Erfolg, wenn auch erst im Jahr 2017 und aufgrund hoher Strafzahlungen für die Nichtachtung der gesetzlichen Regeln für die Kandidatinnenaufstellung. Es ist zu hoffen, auch für Deutschland, dass der damit angekurbelte Prozess nicht ein Jahrtausend dauern wird.

Komplexer politischer Prozess weltweit

Legendär geworden sind die Worte der Sozialdemokratin Marie Juchacz, die sie am 19. Februar 1919 an die Verfassunggebende Nationalversammlung richtete, zwei Wochen nachdem Friedrich Ebert diese eröffnet hatte: "Meine Herren und Damen! [Heiterkeit] Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat."

In der Tat bedurfte es in Deutschland einer Revolution, denn bis zur Ausrufung der Republik (9. November 1918) war – trotz zahlreicher Petitionen und Anträge, Deklarationen und Demonstrationen seitens der Frauen – keine wirksame parlamentarische Mehrheit für das Frauenwahlrecht zustandegekommen.

Erst die Revolutionsregierung, also der durch die beiden Sozialdemokratien gebildete Rat der Volksbeauftragten, konnte am 12. November 1918 ein umfassendes Maßnahmenpaket verkünden, inklusive Frauenwahlrecht auf kommunaler, Länder- und nationaler Ebene. Dieser Tag wird derzeit anlässlich seines 100-jährigen Jubiläums als "Geburtsstunde" des Frauenwahlrechts gefeiert.

Durch eine Revolution kam das Frauenwahlrecht auch in Russland zustande, im März 1917, und ebenso in Österreich. Aber in keinem der übrigen 21 europäischen Länder, die es von 1906 (Finnland) bis 1931 (Spanien) einführten, war es Ergebnis einer Revolution im klassischen Sinn, wenngleich es seit dem 19. Jahrhundert auch gewaltige Widerstände und Konflikte gegeben hatte:

In Britannien, wo die sex barrier im Februar 1918 fiel, hatte der Widerstand in den Jahren 1909-1913 zu gewaltsamen Aktionen geführt, nämlich seitens der "Suffragetten" (zu unterscheiden von den "konstitutionellen" Suffragistinnen, die schon seit 50 Jahren agitierten und deren großartige Aktivitäten in Deutschland immer noch kaum bekannt sind); allerdings war ihre Gewalt nicht eine revolutionäre, sondern eine symbolische.

"Die bürgerschaftliche Beteiligung von Frauen schloss eine vielfache, auch im Alltag wirksame und subjektiv empfundene oder erhoffte Selbstbestimmung ein."

In den USA ging es bei den Kampagnen der Frauen oft heftig zu, bis 1920 das Frauenwahlrecht mit dem 19. Verfassungszusatz verabschiedet wurde. Andererseits verlief der Prozess in mehreren skandinavischen Ländern fast einvernehmlich. Und doch war überall der spezifisch wahlrechts- und demokratiegeschichtliche Wandel – vor dem Hintergrund eines Dreivierteljahrhunderts von männlichem Starrsinn, von tief verwurzelten Geschlechtervorurteilen und Kämpfen dagegen – eine wahrhafte Revolution, wenn auch keine "klassische".

Frauen eroberten sich ohne Gewalt bürgerschaftliche Beteiligung, "participatory citizenship" (in den Worten der amerikanischen Historikerin Kathleen Canning), in vielen Städten und informell sogar schon vor Einführung ihres nationalen Wahlrechts. Diese citizenship beziehungsweise das bürgerschaftliche Engagement von Frauen bedeutete in den Anfangsjahren der Weimarer Republik nicht bloß die Abgabe von Stimmzetteln, sondern schloss eine vielfache, auch im Alltag wirksame und subjektiv empfundene oder erhoffte Selbstbestimmung ein.

Vielen, auch Historikern, galt das Frauenwahlrecht als ein Nebenprodukt der Revolution, und im übrigen hatte sich die Mehrheits-SPD von ihm eine Beruhigung der revolutionären Gemüter erhofft. Gerade deshalb ist es wichtig, jene "Geburtstunde" im Kontext der aufregenden Jahre 1918-1920 zu differenzieren. Wie auch in anderen Ländern handelte es sich hier um einen komplexen politischen Prozess.

Die Verkündung des neuen Wahlrechts am 12. November 1918 – eine Woche nach Beginn der Revolution, drei Tage nach Ausrufung der Republik und einen Tag nach dem Waffenstillstand – war eher ein Auftakt als eine Verbürgung oder Legitimierung, und die Geburt zog sich über drei weitere Etappen hin. Am 30. November 1918 erging das Gesetz zur Wahl der Nationalversammlung; damit war das Frauenwahlrecht auch gesetzlich festgeschrieben und nicht mehr nur ein von der Sozialdemokratie unterschriebenes Provisorium.

Erhebung des Frauenwahlrechts in Verfassungsrang

Vor allem aber sahen und sehen viele die eigentliche "Geburtsstunde der Demokratie" am 19. Januar 1919, als sich, nach zweimonatiger Mobilisierung durch Hunderte von Aktivistinnen, rund 15 Millionen Frauen an die Urnen begaben und sich für die "Weimarer Koalition" entschieden, die aus SPD, DDP (Deutsche demokratische Partei) und Zentrum bestand. Zusammen erreichten sie 1919 eine absolute Mehrheit (rund 76 Prozent), aber nach dem Bekanntwerden des Versailler Vertrags wurde aus dieser Mehrheit eine Minderheit, und die Koalition fungierte später nur noch als geduldete Minderheitsregierung.

Ein männerspezifisches Wahlverhalten zeigte sich bald darin, dass Männer weitaus mehr als Frauen auch für links- und rechtsextreme Parteien stimmten. (Erst 1932 zogen die Frauenstimmen für die NSDAP mit den Männerstimmen gleich – aber das ist eine andere Geschichte.)

Die vierte Runde begann schließlich im Februar 1919 in Weimar, wo die Verfassunggeber den Berliner revolutionären Umtrieben aus dem Weg gehen wollten und bis September blieben. Am 31. Juli 1919 wurde die erste demokratische Verfassung Deutschlands beschlossen (mit 77,5 Prozent Zustimmung), am 11. August durch Unterschrift des Reichspräsidenten erlassen und am 14. August verkündet.

Die Erhebung des Frauenwahlrechts in Verfassungsrang war die stabilste Legitimierung und Konsolidierung, die überhaupt möglich war, und konnte von dem hohen symbolischen Potential profitieren, das der Verfassung anlässlich der jährlichen Feier des "Ver-fassungstags" am 11. August zukam. Diese vierte Runde darf als die gedenkwürdigste gelten, und so wird im August 2019 hoffentlich ein weiterer Gedenktag gefeiert.