Zu einem Netz zusammengespannte Nägel
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Moderne
Wie Inklusion und Exklusion Gesellschaften prägen

Inklusion gilt als erstrebenswertes Ziel der gleichberechtigten Teilhabe. Wird es Exklusion dann nicht mehr geben? Eine soziologische Betrachtung.

Von Rudolf Stichweh 11.04.2020

Der soziologische Begriff der Inklusion bezeichnet die Form, in der soziale Systeme Personen berücksichtigen und ihnen Chancen der Einflussnahme und der Mitwirkung einräumen. In den ständischen Gesellschaften der vormodernen Welt bezieht die Inklusion der Personen sich vor allem auf das ständische Kollektiv, in das ein jeder hineingeboren wird und das für die meisten Gesellschaftsmitglieder einen großen Teil ihrer Lebensführung vorzeichnet. Man wird in ein adliges, bürgerliches oder bäuerliches Kollektiv hineingeboren, und diese Zugehörigkeit ist der hauptsächliche, die Selbst- und Fremdbeobachtung bestimmende Kontext der Inklusion.

Im Blick auf diese vormoderne Situation wird der dramatische Umbruch, den die Moderne des 18. bis 21. Jahrhunderts mit sich bringt, gut sichtbar. Die moderne Gesellschaft kennt vor allem Individuen, und Individuen sind durch sich selbst bestimmt und nicht durch einen charakteristischen, sie definierenden Kontext der Inklusion. Statt aus einer relativ kleinen Zahl von Ständen, Schichten oder Klassen besteht die Gesellschaft der Moderne aus einer großen Zahl voneinander verschiedener, über spezifische Sachthemen sich heraus­bildender Sozialsysteme, und jedes dieser Sozialsysteme ist für ein Individuum ein möglicher Kontext der Inklusion. Daran fällt zunächst einmal die ungeheure Vielfalt moderner Sozialsysteme auf, die eine der bestimmenden Signaturen der modernen Gesellschaft ist. Für das Individuum sind all dies Möglichkeiten und Forderungen der Teilnahme an diesen Sozialsystemen, aber keine Gewissheiten unverbrüchlicher Zugehörigkeit zu einem bestimmten dieser Systeme.

Globale Funktionssysteme: Vielzahl an Inklusionsoptionen

Unter den unzähligen Sozialsystemen der Moderne tritt ein Typus besonders hervor. Dies sind die globalen Kommunikationssysteme, die Soziologen gern auch Funktionssysteme nennen, weil sie sich auf eine hochgradig spezifische Form von Kommunikationen spezialisieren, die ihnen ein Monopol für eine bestimmte Art der gesellschaftlichen Funktionserfüllung sichern: Der Gebrauch politischer Macht gehört dann in das weltpolitische System und die diesem zugehörigen einzelnen Staaten der Weltgesellschaft.

Wahrheitsfähige Kommunikationen, die rückhaltlos forschungsbasiert sind, werden nur im Wissenschaftssystem produziert. Wenn man eine globale Pandemie bewältigen will, kann man nicht mehr bei irgend­einem Heiler Hilfe suchen, sondern benötigt ein weltweites Gesundheitssystem und das Wissen und die Vergleichsmöglichkeiten, die in diesem verfügbar sind. Die dauerhaft verlässliche Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen wird man nur in einem funktionsfähigen, alle Weltregionen einbeziehenden Wirtschaftssystem erreichen.

"Jedes Individuum ist in diesen Realisierungen von Inklusion von jedem anderen Individuum unterschieden und ist genau deshalb als ein Individuum zu erkennen."

Für diese globalen Funktionssysteme, von denen es vermutlich etwas mehr als zehn Fälle gibt (außer den bereits Genannten: Erziehung, Religion, Kunst, Recht, Sport, Massenmedien, Intimbeziehungen und Familien), stellt sich jeweils auch die Frage der Inklusion. Jedes Individuum ist der Möglichkeit nach in jedem Funktionssystem inkludiert, aus der Reaktion auf die Vielzahl der Inklusionsmöglichkeiten und vollzogenen Inklusionen ergibt sich die Form der modernen Individualität. Jedes Individuum ist in diesen Realisierungen von Inklusion von jedem anderen Individuum unterschieden und ist genau deshalb als ein Individuum zu erkennen.

Zwischen der Vormoderne und der Moderne liegen die Inklusionsrevolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, die bis in unsere Tage fortdauern. Mit "Inklusionsrevolution" ist der Sach­verhalt gemeint, dass aus Funktions­zusammenhängen, die über viele Jahrhunderte nur ganz kleine Teile der Bevölkerung erreichten und einbezogen, globale Riesensysteme geworden sind, für die der Tendenz nach jeder der 7,8 Milliarden Menschen, die auf der Erde leben (Anfang 2020) als eine Inklusionsadresse in Frage kommt.

Hochschulbildung: Beispiel für Inklusion und Exklusion

Ein gutes Beispiel ist das System der Hochschulerziehung (als ein Subsystem des globalen Erziehungssystems), das vom Zeitpunkt der Entstehung der ersten europäischen Universitäten um 1200 bis mindestens um das Jahr 1900 in den meisten Ländern maximal ein bis zwei Prozent der männlichen Bevölkerung einbezogen hat und das in den wenig mehr als 100 Jahren seither in eine Größenordnung hineingewachsen ist, in der in einer gro­ßen Zahl von Ländern Bevölkerungsanteile von 30 bis 40 Prozent erreicht werden und in manchen Ländern (Taiwan, Neuseeland, Südkorea) weit höhere Anteile, die 100 Prozent nahekommen. Entsprechendes gilt für alle anderen Funktionssysteme: Wenn es in einem Land überhaupt Wahlen gibt, dürfen in der Regel heute alle in dem jeweiligen Land Lebenden (oberhalb einer Altersschwelle) wählen: Auch Personen, die absolut arm sind und von denen es auf der Erde mehrere Hundert Millionen gibt, haben ein ökonomisches Budget, dessen Verwendung (als Entscheidung unter Alternativen) eine lokale Wirtschaftsordnung prägt.

Gerade unter den am stärksten an den Rand gedrängten Bevölkerungen der Welt sind aggressiv missionierende Sekten, deren zentraler Wert "religiöse Konversion" heißt, die am auffälligsten tätigen Akteure. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch die Corona-Pandemie dieser Wochen, weil sie zeigt, dass effektive Interventionen im Weltsystem der Gesundheit davon abhängen können, dass tatsächlich jede einzelne Person von Gesundheitsakteuren erreicht und in diesem Sinn inkludiert werden kann, weil auch von einer einzelnen Person, die unerreichbar geblieben ist, ein Infektionsrisiko ausgeht, das innerhalb von Wochen Tausende von Infektionen verursachen kann.

Es gibt also in den Funktionssystemen eine Tendenz zur Vollinklusion, das heißt der potenziell gegebenen Inklusion aller Menschen, die überhaupt leben, in die Chancen der Partizipation in den jeweiligen Funktionssystemen der Weltgesellschaft. Heißt dies, dass es überhaupt keine Exklusion mehr gibt? Für eine Antwort auf diese Frage sollte man mehrere instruktive Formen unterscheiden, die alle zwischen Inklusion und Exklusion liegen.

Gerade unter den am stärksten an den Rand gedrängten Bevölkerungen der Welt sind aggressiv missionierende Sekten, deren zentraler Wert "religiöse Konversion" heißt, die am auffälligsten tätigen Akteure. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch die Corona-Pandemie dieser Wochen, weil sie zeigt, dass effektive Interventionen im Weltsystem der Gesundheit davon abhängen können, dass tatsächlich jede einzelne Person von Gesundheitsakteuren erreicht und in diesem Sinn inkludiert werden kann, weil auch von einer einzelnen Person, die unerreichbar geblieben ist, ein Infektionsrisiko ausgeht, das innerhalb von Wochen Tausende von Infektionen verursachen kann.

Es gibt also in den Funktionssystemen eine Tendenz zur Vollinklusion, das heißt der potenziell gegebenen Inklusion aller Menschen, die überhaupt leben, in die Chancen der Partizipation in den jeweiligen Funktionssystemen der Weltgesellschaft. Heißt dies, dass es überhaupt keine Exklusion mehr gibt? Für eine Antwort auf diese Frage sollte man mehrere instruktive Formen unterscheiden, die alle zwischen Inklusion und Exklusion liegen.

Zwischenbereiche von Inklu­sion und Exklusion

Zunächst einmal kann man kompensatorische Formen der Inklusion beobachten. Für Personen, die unter Normalbedingungen nicht in die operativen Vollzüge der Funktionssysteme inkludiert werden können, werden in den betreffenden Funktionssystemen eigene Subsysteme geschaffen, über die ihre Inklusion dann doch ermöglicht wird. Ein naheliegendes Beispiel ist der Behindertensport, der sich mittlerweile von einem kleinen Nebensystem in ein großes Weltsystem des Behindertensports transformiert hat, von dem seinerseits eine nicht kleine Anziehungskraft für ein Weltpublikum ausgeht.

Ähnliche Einrichtungen beobachten wir in mehreren Funktionssystemen: Behindertenschulen, Spezialklassen in Normalschulen, speziell ausgebildetes Personal, das Behinderte in Normalklassen unterstützt; oder Formen "geschützter Arbeit" in eigens dafür errichteten Organisationen des Wirtschaftssystems. Man kann an diesen Beispielen sehen, dass es häufig zwei Alternativen zu geben scheint. Die Gruppen und Personen, die an Inklu­sionskriterien des Systems zu scheitern drohen, werden in Sonderinstitutionen inkludiert, in denen die Inklusions­bedingungen den vorhandenen Ausstattungen der Personen angepasst worden sind. Die andere Möglichkeit ist, die allgemeinen Inklusionskriterien selbst so anzupassen und auszuweiten, dass auch die bis dahin ausgeschlossenen Gruppen jetzt zur Normalpopula­tion gehören. Man kann zum Beispiel das Wahlrecht so ausgestalten, dass es keine Schreib- und Lesefähigkeit mehr von den Wählern verlangt und hat in der Folge einen erheblichen politischen Inklusionseffekt.

Außer kompensatorischen Formen der Inklusion existieren vielfältige Varianten von Minimalinklusion. Wir hatten das schon am Beispiel der Armut/absoluten Armut diskutiert. Diese wird von vielen Beobachtern als Exklusion (aus Wirtschaft) gedeutet. Das ist aber oft nicht richtig, weil auch Arme über Geld verfügen, sich selbst oft als handlungsfähig erleben und Entscheidungen unter Alternativen treffen, die mikroökonomische und makroökonomische Folgen haben.

Ähnlich ist es mit sehr basalen Formen des Erwerbs von Lese- und Schreibkompetenz, die man sowohl als Exklusion aus Erziehung/Bildung in einem eigentlich erforderlichen Umfang deuten kann, wie man andererseits den radikalen Umbruch betonen kann, der für eine einzelne Person darin liegt, dass sie jetzt auf einmal einfache Texte zu lesen und vielleicht sogar zu schreiben imstande ist. Der Unterschied von Minimalinklusion und Exklusion hängt offensichtlich mit der subjektiven Sinnperspektive der Individuen zusammen, die dieselbe minimale Einbeziehung je nach ihren konkreten Umständen sowohl als Inklusion wie als Exklusion deuten können.

"Auch die exkludierende Inklusion trägt zur Diversifikation der Gesellschaft bei."

Eine dritte Form im Zwischenbereich von Inklusion und Exklusion ist die inkludierende Exklusion. Das ist eine charakteristische Erfindung der modernen Gesellschaft, die unter anderem aus Institutionen besteht, mittels deren man im ersten Schritt Personen aus der Gesellschaft herausnimmt (Strafgefängnis, Hospital, Psychiatrie, Kloster) und ihre Tätigkeitsbereiche eng einschränkt (Exklusion aus einer Vielzahl der gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhänge). Zugleich ist diese Exklusion aber auch Inklusion (in die betreffenden Institutionen), und sie verfolgt die Absicht, die betreffenden Personen mittels einer "Behandlung" durch die betreffenden Institutionen in die gesellschaftlichen Normalvollzüge zurückzuführen (im Fall des Klosters geht es eher um die Freisetzung von vielen gesellschaftlichen Erwartungen, um die Person für uneingeschränkte Tätigkeit im Sinn der Kirche verfügbar zu haben). Das ist eine paradoxe Struktur: Ausschluss in der Form und mit der Absicht einer Inklusion, aber diese paradoxe Struktur ist eine der bestimmenden Institutionen der Moderne.

Schließlich gibt es eine vierte Form, die in den Zwischenbereichen von Inklusion und Exklusion entsteht. Der richtige Name ist vermutlich exkludierende Inklusion. In der Umkehrung der Logik des gerade diskutierten Falls beginnt man mit einer Inklusion, die marginalisierten Bevölkerungsanteilen offeriert wird, einer Inklusion in eine kriminelle Gang, eine Sekte, eine terroristische Gruppe, eine systemfeindliche Partei. Diese Inklusion ist gewissermaßen "all-inclusive", sie bietet einen totalen Kontext der Lebensführung, der keinen Bedarf für ein "außen" mehr vorsieht. Aber zugleich ist die Inklusion in radikaler Weise exklusiv. Sie bricht den Kontakt zu den normalen Vollzügen und geltenden Normen der Gesellschaft, in der dies geschieht, ab – und etabliert sich in prinzipieller Weise als System­opposition.

Auch dann ist man nicht außerhalb der Gesellschaft. Spätestens seit Durkheim wissen wir, dass auch der Verbrecher Teil der Gesellschaft ist, in der er als Verbrecher ein alternatives Normensystem praktiziert. Insofern trägt auch die exkludierende Inklusion zur Diversifikation der Gesellschaft bei. Sie fügt der Gesellschaft oppositionelle Systeme hinzu, hinsichtlich deren man nie sicher sein kann, dass sie nicht irgendwann in das Zentrum der Gesellschaft rücken (die Dominanz der Mafia, das kleptokra­tische politische Regime, die Machtübernahme durch die bolschewistische/nationalsozialistische Partei, die Christianisierung des römischen Reiches).

Alle diese Beispiele zeigen, wie sehr die Dynamik der Gesellschaft und insbesondere die der modernen Gesellschaft, die fortschreitende Differenzierung und Diversifikation der Gesellschaft, die Entstehung und der Umbau von Systemen, durch unablässige Prozesse der Inklusion und der Exklusion getragen und vorangetrieben werden.