Bild von Sonnenuntergang über dem Baha i Temple of South America in Santiago, Chile
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Weltreligionstag
Wie neue Religionen entstehen

Die Religion der Baha’i ist vergleichsweise jung. Sie propagiert die Einheit der Religionen untereinander und mit der Wissenschaft.

Von Bernhard Maier 17.01.2021

In den Kalendern, die internationale und interkulturelle Fest- und Gedenktage verzeichnen, findet man in diesem Jahr am 17. Januar den "Weltreligionstag" oder World Religion Day. Er wurde erstmals im Dezember 1949 von der Nationalen Geistlichen Versammlung der Religionsgemeinschaft der Baha’i in den Vereinigten Staaten ausgerufen, um die Überzeugung der Baha’i von einer inneren Einheit der Religionen zum Ausdruck zu bringen und das gegenseitige Kennenlernen der Anhänger unterschiedlicher Religionen zu fördern. Am 15. Januar 1950 erstmals begangen, wird der Weltreligionstag seitdem auch außerhalb der Vereinigten Staaten jeweils am dritten Sonntag im Januar gefeiert und findet seit einiger Zeit auch außerhalb der Religionsgemeinschaft der Baha’i einige Beachtung.

Entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat die Religion der Baha’i ihren Namen von dem arabischen Ausdruck bahā’u llāh ("Herrlichkeit Gottes"), dem Ehrentitel ihres Stifters Mirza Husain Ali Nuri (1817–1892). Aufbauend auf Anschauungen des schiitischen Islams, propagierte der in Teheran geborene Mirza Husain Ali seit 1866 den Gedanken einer fortschreitenden Gottesoffenbarung: Wie die Bibel den Koran vorbereitet habe, so sei auch der Koran als Vorbereitung jener Offenbarung zu verstehen, die erst vor kurzem an den als Bāb ("Tor" oder "Pforte") bezeichneten Perser Sayyid Ali Muhammad ergangen sei. Dieser war 1850 hingerichtet worden, nachdem er sich zwei Jahre zuvor in Anwesenheit des Thronfolgers der herrschenden Dynastie als den von den Schiiten erwarteten verborgenen Imam oder Mahdi bezeichnet und damit die alleinige geistliche und weltliche Macht im Land beansprucht hatte.

Aus Iran verbannt, verbrachte Baha’ullah die letzten zweieinhalb Jahrzehnte seines Lebens in der osmanischen Festungsstadt Akkon (im heutigen Israel). Dort verfasste er zahlreiche Schriften in persischer und arabischer Sprache, in denen er unter anderem die Einheit aller Menschen bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer kulturellen Unterschiedlichkeit, die Einheit der Religionen und ihre Übereinstimmung mit der Vernunft und der Wissenschaft sowie die Einsetzung eines Weltschiedsgerichtshofes zur Förderung des Weltfriedens propagierte. Weltweit verbreitet, wird die Religion der Baha’i heute vom "Universalen Haus der Gerechtigkeit", einem neunköpfigen Gremium mit Sitz im israelischen Haifa geleitet.

Neue Religionen als Erfüllung alter Verheißungen

In religionshistorischer Perspektive steht die Sicht der Baha’i auf andere Reli¬gionen in einer zweitausendjährigen Tradition, die vor allem im Umfeld der monotheistischen Religionen zu finden ist. Erkennbar ähnlich sind etwa das frühchristliche Verständnis des Christentums als Erfüllung einer älteren göttlichen Verheißung an das Judentum, das Selbstverständnis des spätantiken Religionsstifters Mani als des Vollenders von Zoroastrismus, Buddhismus und Christentum oder auch die Vorstellung von Muhammad als dem "Siegel der Propheten", mit dem Koran als letztgültiger Überbietung des Evangeliums und der Tora.

Zeitlich näher stehen den Gedanken Baha’ullahs indessen vergleichbare Entwicklungen, die auf dieser Grundlage seit der Frühen Neuzeit immer wieder zu beobachten sind. Erinnert sei hier nur an die humanistische Vorstellung von der prisca theologia oder "altehrwürdigen Theologie", die Gott einst den Menschen offenbart habe und die man nunmehr wieder für die Gegenwart fruchtbar machen müsse, oder auch an den damit verwandten Gedanken einer philosophia perennis oder "ewigen Philosophie”, demzufolge sich einige ewige und unwandelbare Wahrheiten über die Jahrtausende hinweg erhalten hätten und immer wieder in den verschiedensten Kulturen zu finden seien. Dass man die "typologische" Deutung der Bibel mit ihrem Verständnis von Verheißung und Erfüllung auch auf die außerbiblische Geschichte ausdehnen konnte, wussten bereits jene spätantiken Kirchenschriftsteller, die im griechischen Sänger Orpheus eine Entsprechung zum biblischen König David sahen. Noch in der Neuzeit begegnet dieses Verfahren unter anderem bei den sogenannten Figuristen – französischen Jesuiten, die im späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert christliche Wahrheiten in den chinesischen Klassikern zu finden meinten.

Berührungsängste abbauen

Als zentraler Bestandteil einer neuen Religion findet man eine vergleichbare Bezugnahme auf ältere religiöse Traditionen und Deutungsmuster indessen nicht nur bei Baha’ullah, sondern auch bei  den Gründern der Theosophischen Gesellschaft, die 1875 unter Hinweis auf tatsächliche oder auch nur vermeintliche Übereinstimmungen in den Religionen ganz verschiedener Kulturen die Einheit aller Religionen propagierten. Quasireligiöse Züge zeigten schließlich auch die Bestrebungen einiger Teilnehmer des sogenannten "Weltparlaments der Religionen", die 1893 im Rahmen der großen Weltausstellung anlässlich des vierhundertsten Jahrestages der Entdeckung Amerikas in Chicago zusammenkamen. Dass sich just zu jener Zeit auch eine "Vergleichende Religionswissenschaft" als akademische Disziplin – zunächst vor allem in einem protestantischen  Umfeld – zu etablieren begann, zeigt das Interesse, das breite Kreise in einem Zeitalter der Säkularisierung und der Relativierung vermeintlich unum-stößlicher religiöser Wahrheiten einer vergleichenden Betrachtung der Religionen entgegenbrachten.

Wenn sich der "Weltreligionstag" in den vergangenen siebzig Jahren auch außerhalb der Vereinigten Staaten in der Religion der Baha’i verbreitete und gerade in der letzten Zeit auch immer wieder außerhalb dieser Religionsgemeinschaft aufgegriffen wurde, so liegt dies wohl nicht zuletzt daran, dass man sich gerade in den letzten Jahrzehnten verstärkt  des Konfliktpotentials von Religionen bewusst geworden ist und hier auch in symbolischer Weise gegenzusteuern versucht. Die Aufforderung, über den eigenen Tellerrand hinaus auch andere Religionen wahrzunehmen, Berührungsängste abzubauen und konstruktive Dialoge wertzuschätzen, wird man indessen wohl auch dann begrüßen, wenn man die theologischen Prämissen Baha’ullahs und seiner Anhänger nicht zu teilen vermag.