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Sprachwissenschaft
Wie sich Gebrauch und Bedeutung von Wörtern verändern

Jede Generation prägt eine Sprache mit eigenen Ausdrücken. Diese zu erforschen ist "ganz ehrlich" und "tatsächlich" eine Wissenschaft für sich.

Von Roland Kaehlbrandt 17.02.2019

Der Sprachwandel nimmt seinen Lauf. So hat die junge Generation eine ganze Serie von neuen Ausrufen, rhetorischen Fragen, Kommentaren und Redewendungen in Umlauf gebracht, die dem spontanen Ausdruck von Gefühlen dienen. Ein paar Kostproben: "Geht’s noch?" "Echt jetzt?" "Das geht gar nicht!" "Das geht sowas von gar nicht!" "Ich glaub’s nicht!" Um spontane Reaktionen wiederum zu dämpfen, sind neuartige Beschwichtigungsformeln beliebt: "Alles gut!" "Okee, okee!" "Entspann dich!" oder auch "Chill mal deine Base!".

In die Reihe neuer oder auch nur leicht veränderter Kommentare gehört "ganz ehrlich". Zwar ist der Ausdruck nicht neu, neu ist allerdings seine überaus häufige Verwendung. Und diese passt zu dem wachsenden Bedürfnis nach spontaner, schneller, kurzer, lässiger Kommunikation. "Ganz ehrlich" oder "mal ganz ehrlich" leiten ein emotionales Geständnis ein, das vom Gegenüber allerdings auch Zustimmung erheischt.

Meist handelt es sich um eher alltägliche Widrigkeiten, die spontane Reaktionen hervorrufen: A: "Da hat sie ihren Urlaub in letzter Sekunde dann doch noch verlegt." B: "Ganz ehrlich: Das geht sowas von gar nicht. Krass! Aber mal ganz ehrlich: Ist auch nicht das erste Mal, dass sie sowas bringt." A: "Megakrass!" B: "Aber hallo!"

"Ganz ehrlich": Kurzformel für alltägliche Aufgeregtheiten

In den meisten Fällen kann sich die Empörung auch rasch wieder legen oder sich kurzerhand einem anderen Gegenstand zuwenden. Deshalb ist die moderne Geständnisformel eben das, was die meisten neuen Kommentare auszeichnet: übertrieben – so als ginge es um die Offenbarung einer unbequemen Wahrheit, die nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit gesagt werden kann. Tatsächlich aber ist "ganz ehrlich" eine Kurzformel für alltägliche Aufgeregtheiten aller Art – und genau deshalb so angesagt.

Apropos tatsächlich. Dies für den wissenschaftlichen Gebrauch so wichtige Wort erfährt als Adverb gegenwärtig eine leichte Gebrauchs- und damit eine Bedeutungsverschiebung. Tatsächlich wird als Adverb üblicherweise zur Bestätigung einer Vermutung oder im Gegenteil zur Hervorhebung einer Tatsache verwandt, die wider Erwarten eingetreten oder nicht eingetreten ist: "Das hätte ich von ihm nicht gedacht. Er hat es doch tatsächlich getan!"

Es wird hier die Tatsächlichkeit einer Handlung deshalb bestätigt, weil sie sich nicht von selbst verstand. In einer Zweitbedeutung kann tatsächlich auch unter Absehung von Erwartungen und Vermutungen nur für die Kennzeichnung von Fakten verwendet werden, die allerdings von nicht alltäglicher Wichtigkeit sind.

"Tatsächlich": eine Bedeutungsverschiebung

In der neuartigen, leicht verschobenen Verwendung wird tatsächlich am Satzanfang verwendet, und zwar nun nur noch als eigentlich entbehrliche Bestätigung eines Faktums, das weder unerwartet noch erwartet war oder besonders bedeutend ist; sondern das schlicht geschehen ist oder geschehen wird: A: "Wo hat er gelebt?" B: "Tatsächlich hat er in München gewohnt." Oder auch in die Zukunft gerichtet: A: "Wann wollen Sie die Hausarbeit abgeben?" B: "Tatsächlich kann ich sie in vier Wochen einreichen."

Wenn man sich vor Augen führt, dass tatsächlich als Adverb mit wahrhaftig oder in Wirklichkeit verwandt ist, bemerkt man die Bedeutungsverschiebung. Denn auch diese verwandten Adverbien dienen zur Kennzeichnung von besonders relevanten oder auch überraschenden Fakten.

"Tatsächlich" fügt in der neuen, leicht verschobenen Verwendung der Satzaussage nichts Wesentliches hinzu. Und doch ist ebendiese Verwendung immer häufiger bei jungen Leuten zu hören. Folgt die neutrale Verwendung des Adverbs tatsächlich dem steigenden Kommunikationsbedürfnis nach Hervorhebung aller möglichen Umstände? Oder handelt es sich um eine Verwandte des verbreiteten Zögerungsmerkmals genau, das in Referaten häufig die Redeabschnitte einleitet oder abschließt? Das ist noch offen.

Aber mal ganz ehrlich: Unbeweglich ist die deutsche Sprache nicht. Tatsächlich entwickelt sie sich weiter.