Ein aufgeschlagenes Buch
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Rezension
Wie tickt Deutschland?

Uns geht es gut und doch brodelt es im Land. Stephan Grünewald ist den Gründen nachgegangen und hat Deutschland erneut auf die Couch gelegt.

Von Friederike Invernizzi 10.03.2019

Sich mit der eigenen Befindlichkeit auseinanderzusetzen, scheint ein ureigenes Bedürfnis der Deutschen zu sein. Wissenschaftliche Tagungen und Publikationen zum Thema haben stets Konjunktur. Der selbstquälerische Gestus, getrieben von einer tiefen Unsicherheit ob der eigenen Existenz, erscheint teils hochmütig und arrogant. Bei der Antwort nach der Frage der Berechtigung der eigenen Existenz wird mal sorgenvoll, mal tiefsinnig, mal autoaggressiv der eigene Puls gefühlt. Friedrich Nietzsche brachte es 1886 in "Jenseits von Gut und Böse" auf den Punkt: "Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage Was ist deutsch? niemals ausstirbt." 

In seinem neuen Buch "Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft" möchte Stephan Grünewald tiefer gehen, um zu verstehen, was mit Deutschland und den Menschen in diesem Land los ist. Als Psychologe und Leiter des Rheingold Instituts in Köln hat er Einblick, was die Menschen in Deutschland bewegt: Jedes Jahr werden im Rahmen von über 200 Forschungsprojekten insgesamt mehr als 5000 Menschen aller Alters- und Bevölkerungsschichten in psychologischen Tiefeninterviews individuell befragt.

Grünewald will mit seinem Buch eine "Forschungsreise" unternehmen, den Quellen der Unzufriedenheit, der inneren Aufgewühltheit und der Wut in Deutschland auf den Grund gehen. Wie kommt es, dass – obwohl es den Deutschen ganz offensichtlich gut geht –, sie unzufrieden und wütend sind? Grünewald schreibt über die Ohnmacht und den Zorn in Deutschland, die Erosion des Zusammenhalts, über die Folgen der Digitalisierung in unserer Gesellschaft.

Bild einer bröckelnden und brodelnden Gesellschaft

Die verschiedenen Stimmungslagen lassen sich nach Grünewald nicht einzelnen Gruppen zuordnen, sondern ziehen sich durch alle Schichten: Verunsicherung, Vollkaskomentalität mit starker Abschottung. Nährboden für einen neuen Fundamentalismus und Nationalismus, gleichzeitig aber auch die Bereitschaft, die Zukunft aktiv zu gestalten.

Das Bild einer bröckelnden und brodelnden Gesellschaft zeichnet Grünewald insbesondere bei der Betrachtung des Alltags, des Rollenverständnisses von Mann und Frau. Es wird nach seiner Beobachtung deutlich, dass die deutschen Männer heute kein klares Rollenbild mehr haben. Soll es Typ Putin sein, hart, klar entschieden und kompromisslos oder doch lieber die sanfte friedfertige Putte mit großem Verständnis und Einfühlungsvermögen?

Der größte Männertypus ist laut Grünewald mit 27 Prozent Anteil der "Schoßhund", der sich selbst als modernen Mann beschreibt, der natürlich für die Gleichberechtigung ist, jedoch die offene Auseinandersetzung mit den Frauen meidet. Die Frauen in Deutschland stehen dagegen unter der Last der Verantwortung und ihren Vorstellungen eines Idealbilds einer guten Mutter und berufstätigen Frau. Dies mündet häufig in Erschöpfung, Frustration und in Versagensängsten.

Gegen die Erosion und den Zusammenbruch unserer demokratischen Werte und im Kampf um die Erhaltung zivilisatorischer Errungenschaften wie Frieden, Freiheit, Menschenrecht, Toleranz und Gerechtigkeit fordert Grünewald das Prinzip des "langsamen Verfertigens eines gültigen Standpunktes, der immer wieder neu geprüft, in Frage gestellt und weiterentwickelt wird."

Leise Töne sind Grünewalds Sache nicht in seinem neuen Buch. Schonungslos und hart geht er mit Deutschland ins Gericht, seine Beobachtungen sind scharfsinnig und treffen neuralgische Punkte. Dass er dabei nicht zum verbitterten Zyniker wird und Visionär bleibt, macht das Buch zu einem wertvollen Beitrag in der langen Reihe deutsche Selbstreflektion.

Cover des Buches "Wie tickt Deutschland?

Stephan Grünewald (2019): Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 20 EUR.