Ein Mann blickt aus dem Fenster eines Zuges
mauritius images / Caia Image / Agnieszka Olek

Corona-Pandemie
Wie werden wir auf das Jahr 2020 zurückblicken?

Das Coronavirus hat das Bewusstsein der westlichen Welt auf Infektionskrankheiten geschärft. Unser Autor blickt auf mögliche Chancen.

Von Jörg Tremmel 14.08.2020

Wenn Generationengerechtigkeit bedeutet, die Lebenschancen und -bedingungen kommender Generationen nach Möglichkeit zu verbessern, dann liegt die Verbindung zu Seuchen auf der Hand. Denn Seuchen gehörten – und gehören, wie wir jetzt auch im Westen wieder feststellen – zu den apokalyptischen Reitern, die Tod und Leid über Menschen bringen. Wir sollten kommende Generationen vor absehbarem Schaden schützen, wenn dies in unserer Macht steht.

Ironischerweise ist die Chance, dass die Menschheit einige ihrer schlimmsten Mikroben-Plagegeister im 21. Jahrhundert endgültig ausrottet, im ersten Halbjahr 2020 nicht gefallen, sondern gestiegen. Das neue Corona-Virus hat dazu geführt, dass das epidemiologische Wissen in der Bevölkerung massiv zugenommen hat. Heranwachsende lernen durch neu erlassene Hygieneregeln in Schulen, dass Mikroben eine Gefahr sind, vor der man sich schützen muss.

"Bei SARS-CoV-2 war die Reaktion der Menschheit wissensbasierter und weniger gleichgültig als bei früheren Pandemien."

Impfstoff- und Medikamentenbevorratung beinhaltet immer das Risiko, dass ein Teil unnötigerweise angeschafft wird – diese Bevorratungsstrategie war nach der Schweinegrippe 2009 in Verruf geraten. Doch jetzt wird dieses Risiko auch von der Wirtschaft als das deutlich kleinere Risiko im Vergleich zu einem Lockdown angesehen. Podcasts von Virologen – und die dadurch ausgelösten Debatten auch in den Massenmedien – führen dazu, dass die breite Bevölkerung und die Politik sich mit Infektionsepidemiologie beschäftigen.

Wissen global teilen und Seuchen bekämpfen

Wenn wir aus dem Jahr 2100 auf das Jahr 2020 zurückblicken, dann könnte unsere Gegenwart als das Jahr angesehen werden, in dem die Menschheit sich endlich aufraffte, nach dem erfolgreichen Modell der Pockenausrottung noch weitere Infektionskrankheiten (zum Beispiel Typhus, Polio, Masern oder Röteln) weltweit zu eliminieren. Auch bei nicht-beseitigbaren Infektionskrankheiten dürfte künftig mehr getan werden. Um ein Zusammenfallen der saisonalen Grippe mit einer zweiten Corona-Welle zu verhindern, kündigte der britische Gesundheitsminister für den  Herbst 2020 bereits das „größte Grippeimpfungsprogramm in der Geschichte“ an. Dies wird die Zahl der jährlichen Grippe­toten auf Jahre hinaus senken.

Bei SARS-CoV-2 war die Reaktion der Menschheit wissensbasierter und weniger gleichgültig als bei früheren Pandemien. Für eine kurze Zeit hörte die Menschheit auf ihre Virologen und Epidemiologen und ordnete der Virusbekämpfung beziehungsweise Seucheneindämmung alles andere unter. Es ist verkürzt, wenn gesagt wird, dass zu Beginn der Corona-Pandemie "die Experten" mehr Einfluss bekommen hätten. Auch für die Sektoren Wirtschaft und Bildung gibt es ja Expertinnen und Experten, und normalerweise kommen diese in Talkshows weit häufiger zu Wort als Epidemiologen. Anders im Frühjahr 2020. Infolgedessen wissen weite Bevölkerungskreise, die sich vorher nie für Epidemiologie interessiert hatten, nun mit Maßzahlen und Fachbegriffen wie Basisreproduktionszahl oder Kontagiosität etwas anzufangen.

Der Wissenszuwachs der Wissenschaft selbst im ersten Quartal 2020 war enorm. Die Wissenschaft ging temporär dazu über, auf Preprint-Servern zu veröffentlichen, um Wissen global zu teilen und zu vermehren. Es war ein schönes Beispiel für Schwarm-Intelligenz, wobei das Prinzip des trial and error, das die Wissenschaft ausmacht, von der Öffentlichkeit staunend registriert wurde. Die Menschheit insgesamt konnte datenbasiert die Strategien verschiedener Länder anschauen, best practices teilen und in Simulationen abschätzen, wie stark bestimmte Maßnahmen wirken (und welche wirtschaftlichen und sozialen Nebenwirkungen sie haben). Natürlich waren die Methoden der Datensammlung auch 2020 noch weit davon entfernt, ideal zu sein, aber wenn man den Fürsten der Welt vor 200 Jahren gesagt hätte, dass in ihrer Zukunft einmal alle Pockenfälle registriert und zentral bei einer Weltgesundheitsorganisation gesammelt werden, so hätten sie dies für ein Märchen gehalten.