Professorin Susanne Hähnchen
privat

70 Jahre Grundgesetz
"Wir sollten für unsere Werte einstehen und für sie streiten"

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Wie steht es heute um die Verfassung? Fragen an Susanne Hähnchen, Professorin für Rechtsgeschichte.

Von Friederike Invernizzi 23.05.2019

Forschung & Lehre: Frau Professorin Hähnchen, vor 70 Jahren ist das Grundgesetz in Kraft getreten. Sind die Errungenschaften des Grundgesetzes angesichts des drohenden Verlusts der Mitte und des Erstarkens radikaler Kräfte in Gefahr?

Susanne Hähnchen: Das Gegenteil ist meines Erachtens der Fall. Das Grundgesetz hat – glaubt man aktuellen Zahlen – eine sehr hohe Akzeptanz. Fast 90 Prozent der von Infratest dimap Befragten sind der Ansicht, dass sich das Grundgesetz mindestens "gut" bewährt habe. Die Grundrechte und andere Errungenschaften des Rechtsstaats werden als sehr wichtig angesehen. Allerdings bestehen Zweifel in der Bevölkerung, ob manches, was im Grundgesetz steht, auch in der Realität umgesetzt wird. Es wird häufig wahrgenommen, dass das Zusammenleben nicht so funktioniert, wie der Einzelne sich das vorstellt. Viele schauen, wie es um sie als Einzelperson bestellt ist, weniger darauf, was die Verfassung eigentlich für die Gesellschaft bedeutet.

F&L: Müssen wir das Grundgesetz "neu denken" und leben?

Susanne Hähnchen: Folgende Fragen sollten wir uns stellen: Welche gemeinsamen Werte akzeptieren wir? Welche Spielregeln wollen wir? Da es allgemein zur Erosion von Autoritäten kommt (zum Beispiel von Kirchen und anderen Institutionen), kann das Grundgesetz dazu dienen, wieder vermehrt über unsere Werte nachzudenken. Das würde auch einer zunehmenden Verrohung der Gesellschaft entgegenwirken und einer wachsenden Skepsis und Distanz gegenüber bestehenden Regeln. Wichtig erscheint mir vor allem, dass wir mehr miteinander über diese Themen sprechen, auch um aus dem egozentrischen Verhalten herauszukommen. Neben dem persönlichen Anspruchsdenken existiert nach meiner Wahrnehmung viel politisches Desinteresse.

"Es gerät sonst aus dem Blick, dass es ein 'Wir' geben muss. Denn 'der Staat' ist nicht ein abstraktes Wesen, sondern die organisierte Summe der Individuen."

F&L: Was schlagen Sie konkret vor?

Susanne Hähnchen: Erforderlich ist eine Diskussion über die gemeinsamen Werte und ihre Vermittlung, weil der Rechtsstaat möglicherweise zu abstrakt geworden ist und seine Bedeutung nicht mehr so gut erkannt werden kann. Das ist eine sehr wichtige Diskussion, die noch viel intensiver und auf breiterer Basis geführt werden sollte. Es gerät sonst aus dem Blick, dass es ein "Wir" geben muss. Denn "der Staat" ist nicht ein abstraktes Wesen, sondern die organisierte Summe der Individuen und das sind nicht nur Politiker und Juristen. Eine Gesellschaft braucht für ein friedliches Miteinander gemeinsame Werte und Regeln und diese werden letztlich im höchsten Gesetz, der Verfassung zusammengefasst.

F&L: Müssen auch die Inhalte des Grundgesetzes angepasst werden, damit sich der Gemeinschaftssinn wieder besser entfalten kann?

Susanne Hähnchen: Einige Teile des Grundgesetzes sind in der Vergangenheit vielfach geändert worden. Das waren jeweils Entscheidungen (gewählter) politischer Mehrheiten, die ich nicht kommentieren möchte. Ich würde aktuell jedenfalls nicht am Verfassungstext ansetzen, sondern überlegen, wie man die Identifizierung mit den positiven Werten, die das Grundgesetz ja schon enthält, fördern kann. Beispielsweise gab es in der Weimarer Reichsverfassung, die vor 100 Jahren in Kraft trat, eine starke Orientierung auf das Gemeinwesen. Trotzdem gab es die berüchtigten "Weimarer Verhältnisse". Noch wichtiger als der Verfassungstext sind wohl die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse und die Lebensrealität der Einzelnen. Da stehen wir im historischen und weltweiten Vergleich eigentlich ziemlich gut da.

F&L: Eine Weiterentwicklung des Grundgesetzes würde nicht viel bringen?

Susanne Hähnchen: Weitere Regeln zu formen und Vorschriften zu erlassen, bringt meiner Ansicht nach wenig. Das ist sogar eher kontraproduktiv. Man muss sich der politischen Diskussion angemessen stellen und nicht den Kopf in den Sand stecken, wenn es zur Auseinandersetzung kommt. Die rechtliche Situation ist in Deutschland gut. Allerdings ist die politische Kultur ein großes Problem. Da muss man gegenhalten. Daher ist es wunderbar, dass anlässlich des Geburtstages des Grundgesetzes schon breit diskutiert wird. Das ist in den letzten Jahren so nicht geschehen, was vermutlich daran liegt, dass sich das Gefühl ausbreitet: es steckt der Wurm in unserer Gesellschaft.

F&L: Ihre persönliche Einschätzung zur Zukunft des Grundgesetzes?

Susanne Hähnchen: Bis heute wird diskutiert, ob das Grundgesetz überhaupt eine richtige Verfassung ist, als Provisorium entstanden, nicht vom Volk verabschiedet. Ich kann mir eine Volksabstimmung am Ende eines langen kommunikativen Prozesses gut vorstellen. Und wir sollten für die darin enthaltenen Werte einstehen, für sie streiten und stolz auf unser Grundgesetz sein. Dann hat es eine gute Zukunft.

Professor Susanne Hähnchen ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte sowie Privatversicherungsrecht an der Universität Bielefeld.

Wie kam es zur Unterzeichnung des Grundgesetzes?