Demokratie
Wissenschaft als Bollwerk gegen autoritäre Kräfte
Forschung & Lehre: An welchen Indikatoren kann man erkennen, dass eine Demokratie durch den Einfluss autokratischen Handelns "langsam stirbt"?
Daniel Ziblatt: Es gibt in der Regel einige echte Warnzeichen, sowohl in der Politik mit dem Aufstieg bestimmter Arten von Politikerinnen und Politikern als auch auf der Ebene der Gesellschaft. Anzeichen sind, wenn beispielsweise erfolgreiche politische Parteien die Wahlergebnisse nicht akzeptieren wollen und mit Gewalt drohen. Sie greifen die Bürgerrechte von Oppositionskräften an, indem sie diese als Feindinnen und Feinde und nicht nur als Rivalen bezeichnen. Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist eine tiefe Spaltung einer Gesellschaft, die sie anfällig für populistische Versprechen und demokratische Rückschritte machen kann.
F&L: Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit antidemokratischer Populismus tatsächlich an den Grundfesten der Demokratie rüttelt?
Daniel Ziblatt: Der Grund, warum wir diese Tendenzen jetzt in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa erleben, ist, dass es eine Kombination von drei Faktoren gibt. Erstens: abnehmendes Wirtschaftswachstum und vor allem abnehmende Wachstumsraten bei den Löhnen der Menschen aus der Mittelschicht. Dieser Faktor kombiniert mit der zunehmenden Heterogenität bietet Demagogen die Möglichkeit, Menschen, die als Außenseiter oder neue Mitglieder der Gemeinschaft wahrgenommen werden, für die wirtschaftlichen Probleme aller anderen verantwortlich zu machen.
Und dann kommt als dritter Faktor der Aufstieg neuer Technologien wie der sozialen Medien und künstlichen Intelligenz hinzu, der es Demagogen sehr erleichtert, Macht zu erlangen. Es handelt sich also um eine Art gefährlichen Cocktail aus technologischem, wirtschaftlichem und kulturellem Wandel.
F&L: Welche Gegenmaßnahmen gibt es zum Schutz der Demokratie? Wer kann und sollte hier aktiv werden, um sie zu stabilisieren?
Daniel Ziblatt: Zunächst sollten alle Bürgerinnen und Bürger wählen gehen. In gewisser Weise müssen wir die demokratischen Institutionen selbst schützen. Unsere Institutionen sind nur so stark wie die Bürgerinnen und Bürger, die diese Institutionen besetzen. Man sollte entsprechend nicht für Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten stimmen, die die Demokratie bedrohen. Zudem spielt die Zivilgesellschaft eine wirklich wichtige Rolle. Damit meine ich Gruppen aus ganz normalen Menschen – die können sehr mächtig sein.
Außerdem denke ich beim Schutz der Demokratie an religiöse Führerinnen und Führer, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Organisationen von Universitäten und Forschungsinstituten. Sie können öffentliche Erklärungen abgeben, denn sie spielen eine enorme Rolle dabei festzulegen, was in einer Gesellschaft als inakzeptabel gilt. Und die richtigen roten Linien für die Gesellschaft zu ziehen, die Bevölkerung daran zu erinnern, was die gemeinsamen Grundwerte der Demokratie sind.
F&L: Sie sagen, die demokratischen Parteien haben so etwas wie eine Torwächterrolle. In das Europäische Parlament sind rechte Parteien mit teils demokratiefeindlichen Programmen gewählt worden. Die Kommissionspräsidentin von der Leyen schließt nicht aus, sich mit ihnen zu verbünden. Was sagen Sie dazu?
Daniel Ziblatt: Nur weil jemand gewählt wird, ist er noch lange keine Demokratin oder kein Demokrat. Alle Arten von Politikerinnen und Politikern beziehungsweise Parteien werden gewählt. Das Wichtigste und vielleicht Schwierigste ist, dass sich demokratische Parteien ausdrücklich und offen von Parteien und Einzelpersonen, die antidemokratisch sind, abgrenzen müssen. Und wenn sie das nicht tun, sind sie halbloyal. Ob in den Dreißigerjahren in Europa oder in den Sechziger- und Siebzigerjahren in Lateinamerika: Hat man Halbloyalisten, können sie die Demokratie nachhaltig untergraben.
"Nur weil jemand gewählt wird, ist er noch lange keine Demokratin oder kein Demokrat."
F&L: Was sind die schwerwiegendsten Fehler, die die regierenden demokratischen Parteien im Kampf gegen erfolgreiche verfassungsfeindliche Populisten machen können?
Daniel Ziblatt: Es ist ein schwerwiegender Fehler zu denken, dass man sich mit ihnen verbünden und sie kontrollieren kann. Das ist ein Fehler aus Hybris. Es funktioniert ebenso wenig, Parteien als langfristige Lösung auszuschließen – das verstärkt das Opfernarrativ. Stattdessen müssen Parteien, die sich der Demokratie verpflichtet fühlen, herausfinden, wie sie die wählende Bevölkerung neu für sich gewinnen können.
F&L: Welche Rolle spielen die Wissenschaft und insbesondere die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beim Schutz der Demokratie?
Daniel Ziblatt: Es ist nicht so, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu jedem Thema Erklärungen abgeben müssen. Es gibt gute Gründe, sich zurückzuhalten und nicht zu jedem politischen Thema Stellung zu nehmen. Allerdings haben sie aus meiner Sicht die Aufgabe, sich öffentlich zu Themen zu äußern, die weitreichende Auswirkungen haben, beispielsweise zur Wissenschaftsfreiheit, zur Freiheit der Universitäten und zur Demokratie, falls diese angegriffen wird. Die Demokratie ist das einzige System, das die Redefreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, den freien Austausch von Ideen und die Freizügigkeit schützt.
Eine zweite wichtige Sache ist die, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen sollten, in ihrer Forschung wertneutral zu sein, im Sinne politischer Unvoreingenommenheiten bezüglich der Forschungsergebnisse. Natürlich beeinflussen die politischen Werte der Menschen die Art der Fragen, die sie stellen. Das ist völlig legitim.
Ich denke, Forschende müssen Fragen stellen, die von dem Versuch geleitet sind, unsere gemeinsamen Probleme zu lösen. Diese Probleme reichen vom Klimawandel über den Schutz der Demokratie bis hin zu der Frage, wie man die Demokratie und ihre gelebte Vielfalt fördern kann.
F&L: Während der Covid-19-Pandemie haben vor allem rechtspopulistische Parteien europaweit versucht, die Menschen dahingehend zu beeinflussen, dass die Wissenschaft Unwahrheiten verbreite, keine eindeutigen Erkenntnisse liefere und deshalb unglaubwürdig sei. Würden Sie sagen, dass das eine typische Methode ist, um Menschen zu manipulieren?
Daniel Ziblatt: Ja, es ist Teil einer Strategie, das Vertrauen in politische Institutionen zu schwächen, indem man es der Bevölkerung immer schwerer macht zu unterscheiden, was wahr ist und was nicht. Wird die seriöse Wissenschaft angegriffen, dann mit dem Argument, alles sei ideologisch eingefärbt und politisch. Es gibt also keine Wahrheit und kein Streben nach Wahrheit. Das hat den Effekt, dass es den Autoritären leichter fällt, die Menschen so zu beeinflussen, dass sie sich angesichts ungeheuerlicher Handlungen passiv verhalten.
Deshalb haben wir eine breite Allgemeinbildung in Demokratien: damit die Menschen in der Lage sind, zu unterscheiden, was gute Forschung ist und was nicht, und Vertrauen in verschiedene gesellschaftliche Institutionen zu haben. Das ist ein sehr hoher Anspruch an die Bevölkerung einer Demokratie, aber enorm wichtig. Der Versuch, alles in eine politische Frage zu verwandeln, untergräbt die Wissenschaft und die Universitäten als Bollwerk gegen autoritäre Kräfte. Forschende sind das kleine Kind in der Geschichte "Des Kaisers neue Kleider". Wenn niemand bereit ist, die Wahrheit zu sagen, ist das die Rolle der Wissenschaft. Gelingt es, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzuschüchtern, dann stärkt das die Autoritären. Forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der Spur nach der Wahrheit haben quasi eine antiautoritäre Agenda.
"Forschende sind das kleine Kind in der Geschichte 'Des Kaisers neue Kleider'."
F&L: Welchen Einfluss haben autokratische Systeme wie zum Beispiel in Ungarn oder der Türkei auf die akademische Freiheit?
Daniel Ziblatt: Die akademische Freiheit stellt eine Zone der Unabhängigkeit und Autonomie dar, in gewisser Weise auch eine Zone aus Prestige und Macht, die ein autokratisches System nicht kontrollieren kann. Kommen Autokratinnen oder Autokraten an die Macht, tun sie drei Dinge. Sie greifen das Justizsystem an. Als Zweites ändern sie die Spielregeln der Macht, beispielsweise das Wahlsystem, um ihre Abwahl zu erschweren. Die dritte Maßnahme besteht darin, Machtquellen in der Gesellschaft auszuschalten, die ihnen Widerstand leisten können. Dazu gehören wichtige kulturelle Persönlichkeiten aus Musik und Kunst, aber auch die Hochschulen und ihre Angehörigen. Daher halte ich die Verteidigung der akademischen Freiheit als Maßnahme zur Förderung der Demokratie für unerlässlich. Die Einmischung der Politik in das akademische Leben dient meist der Einschüchterung und ist Teil eines autoritären Projekts.
Demokratie – Schwerpunkt in "Forschung & Lehre"
Die August-Ausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt der "Demokratie".
Die Beiträge:
- Jens Hacke: Krise ohne Alternative?
Überlegungen zur Lage der Demokratie - Hanno Kube: Fragile Herrschaftsform.
Demokratie und ihre Vertrauensgrundlagen - Timm Beichelt: Politik mit der Angst. Ein Problem in der Demokratie?
- Thomas Weber: Zuversicht Mangelware.
Ein Plädoyer für bessere Erzählungen - Im Gespräch mit Tonio Oeftering: Kritisch begleiten und mitgestalten.
Über die Bedeutung von politischer Bildung in einer Demokratie - Im Gespräch mit Daniel Ziblatt: Wissenschaft als Bollwerk gegen autoritäre Kräfte.
Wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Demokratie schützen können
Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!
F&L: Würden Sie sagen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegen populistische Akteure Stellung beziehen sollten?
Daniel Ziblatt: Ich meine, man sollte als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler mit einer gewissen Selbstbeschränkung handeln. Ihre Macht und ihren Einfluss beziehen sie aus ihrem Fachwissen. Ein Ansatzpunkt könnte sein, dass man sich vor allem in den Bereichen zu Wort meldet, in denen man Expertise hat. Aber wenn es Maßnahmen von Regierungen oder Vorschläge von politischen Parteien gibt, die das Leben einer Universität und die Forschung beeinflussen, dann sind Personen aus der Wissenschaft vollkommen berechtigt, sich dagegen auszusprechen.
Die Harvard University hat erst kürzlich eine sogenannte Neutralitätspolitik eingeführt, die auf dem aufbaut, was auch die University of Chicago seit vielen Jahren praktiziert: Die Universitätsleitung sollte nicht mehr das Gefühl haben, bei jedem öffentlichen Ereignis eine Stellungnahme abgeben zu müssen. Kurz davor begann mit dem Übergriff der Polizei auf den Afroamerikaner George Floyd eine Entwicklung der Politisierung der Universität. Der Präsident der Universität hat sich dazu geäußert. Als Russland in die Ukraine einmarschiert ist, wurde aus Protest die ukrainische Flagge gehisst, und man sprach sich dagegen aus. Als der Krieg zwischen Israel und der Hamas begann, war nicht klar, wer sich von Universitätsseite wo genau äußern sollte. Viele Universitätsangehörige begannen zu erkennen, dass es zu viele Äußerungen zu extrem vielen Themen gab und dass die Universität sich generell neutral verhalten sollte, solange es nicht konkret den Hochschulbetrieb betrifft, wobei das demokratische System das Leben an den Universitäten durchaus beeinflusst.
F&L: Sie selbst haben in Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn der Demokratie als Thema sehr viel Aufmerksamkeit, Energie und Arbeitszeit geschenkt. Was genau fasziniert Sie an dieser Regierungsform?
Daniel Ziblatt: Es ist ein System, das die Grundwerte der Freiheit garantiert, die viele Menschen schätzen. Zudem trägt das demokratische System einen Mechanismus der Selbstkorrektur in sich. Manchmal funktioniert das sehr langsam, was zu Frust in der Bevölkerung führen kann. Autoritäre Systeme erscheinen meist als sehr effizient und effektiv. Aber sie enthalten nicht die gleichen Mechanismen der Rückkopplung und Selbstkorrektur. Deshalb brechen autoritäre Systeme oft sehr schnell zusammen, weil sie schon seit Langem marode sind, was bis zum allerletzten Moment oftmals durch Intransparenz und Vertuschen verborgen bleibt. Demokratien ermöglichen eine friedliche Machtübertragung und sind so auf lange Sicht unglaublich effektiv. Ein System, das es meiner Meinung nach wert ist, verteidigt zu werden.