Mehrere jungen Menschen sitzen mit Headphones an Computern nebeneinander und arbeiten.
picture alliance / Zoonar | Channel Partners

Akademische Berufslaufbahn
Inadäquat beschäftigt mit akademischem Abschluss

In Deutschland arbeiten die meisten Forschenden entsprechend ihres Abschlusses, in Großbritannien weniger als die Hälfte. Die Gründe sind vielseitig.

Von Katharina Finke 04.03.2024

"Beschäftigungsadäquanz ist unter deutschen Akademikerinnen und Akademikern kein großes Problem", sagt Dr. Nancy Kracke, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Bildungsverläufe und Beschäftigung am Deutschen Zentrum für Hochschul-und Wissenschaftsforschung (DZHW). 

Dabei muss zunächst zwischen horizontaler und vertikaler unterschieden werden. "Horizontale Adäquanz fokussiert dabei auf die fachliche beziehungsweise inhaltliche Passung zwischen Studieninhalten/-fach und Inhalten der Tätigkeit. Vertikale Adäquanz bezieht sich darauf, ob der/die betrachtete Hochschulabsolvent/in eine Tätigkeit ausübt, für die tatsächlich ein Hochschulabschluss erforderlich ist", so Dr. Bernhard Christoph vom Forschungsbereich Bildung Qualifizierung und Erwerbsverläufe vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA). 

15 Prozent der Beschäftigungen sind inadäquat 

2022 lag die Zahl von vertikaler Beschäftigungsinadäquanz, also der Hochschulabsolventinnen und -absolventen, die in einem Beruf arbeiten, in dem sie ihre Hochschulqualifikation nicht brauchen, laut des nationalen Bildungsberichts bei insgesamt etwa 15 Prozent. "In den vergangenen Jahren kam es dabei auch nur zu geringen Veränderungen", sagt Christoph gegenüber Forschung & Lehre. 

"Ähnlich verhält es sich bei der horizontalen Beschäftigungsinadäquanz", so Kracke gegenüber Forschung & Lehre. Das deckt sich mit dem aktuellen BA-Online-Bericht "Blickpunkt Arbeitsmarkt: Akademiker und Akademikerinnen", der die Adäquanz weitestgehend bestätigt. Darüber hinaus ist laut Bericht 2022 die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit einem akademischen Abschluss um 4 Prozent auf 6,7 Millionen gestiegen. Vor allem Informatikberufe und wirtschaftswissenschaftliche Berufe haben zum Beschäftigungsplus beigetragen. 

Hohe Unterbeschäftigung bei Forschenden in Großbritannien 

In Großbritannien sieht das anders aus. Dort kämpfen Akademikerinnen und Akademiker mit einer Beschäftigungs-Inadäquanz von 52 Prozent. Mehr als die Hälfte der Britinnen und Briten finden keinen ihrem Bachelor-Abschluss entsprechenden Job, so der neue Bericht Talent Disrupted des Strada-Institutes für die Zukunft von Arbeit. 

Die Situation zwischen Großbritannien und Deutschland ist laut der Beschäftigungsadäquanz-Expertin Kracke so konträr, "weil die Bildungssysteme in den Ländern maximal unterschiedlich sind." Das deutsche Bildungssystem sei viel spezifischer als das britische. "Studien zeigen im internationalen Vergleich: Je enger/spezifischer ein Bildungssystem, desto höher die Beschäftigungsadäquanz", sagt Kracke. In Deutschland ist gibt es ein sehr stratifiziertes Bildungssystem und der Arbeitsmarkt ist eng an Berufe gekoppelt. Ohne entsprechende Qualifikation, beispielsweise Studienabschluss, sind die Zugänge zu entsprechenden Berufen nicht möglich. Die Grenzen sind da sehr eng. 

"Studien zeigen im internationalen Vergleich: Je enger/spezifischer ein Bildungssystem, desto höher die Beschäftigungsadäquanz."
Dr. Nancy Kracke, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Bildungsverläufe und Beschäftigung am DZHW

In Großbritannien sei das anders, dort könne man mit einem Praktikum ein Fuß in die Tür bekommen und sich dann die Karriereleiter hocharbeiten. Wie wichtig ein Praktikum in Großbritannien ist, belegt auch der Bericht des Strada-Instituts. Laut diesem sinkt die Zahl der Unterbeschäftigung um fast 50 Prozent, wenn die Studierenden zuvor ein bezahltes Praktikum absolviert haben. Gezieltes Berufs-Coaching ist eine weitere Empfehlung des Berichts, um Abhilfe gegen nicht adäquate Beschäftigung von Hochschulabsolventinnen und -absolventen zu schaffen. 

Einzelne Fächergruppen stärker von Inadäquanz betroffen 

Was dennoch gleich ist in beiden und auch anderen Ländern ist, dass sich "einzelne Fächergruppen sehr deutlich hinsichtlich der Beschäftigungsadäquanz unterscheiden", so Kracke. Der Grund dafür ist laut ihr und Christoph, dass "manche Fächer ein deutlich klarer definiertes Berufsfeld haben als andere". 

Berufe bei Absolventinnen und Absolventen der Fächer Medizin und Rechtswissenschaften seien sehr viel klarer definiert als bei denen, die einen Abschluss in Wirtschafts-, Geisteswissenschaften oder sprach- oder kulturwissenschaftlicher Fächer. "Denn letztere münden nicht in einen bestimmten Beruf", sagt Kracke, "das bedeutet für den Arbeitsmarkt, dass man dort mit mehr Menschen konkurriert und das kann wiederum zu einem höheren Anteil von nicht adäquat Beschäftigten in diesem Bereich führen." 

Herkunft und Geschlecht beeinflussen die Adäquanz 

Ein weiterer Faktor, der einen Einfluss auf die Beschäftigungsadäquanz bei Akademikerinnen und Akademikern in Deutschland und Großbritannien hat, ist der Migrationshintergrund, so die Expertinnen und Experten. "Schwarze sind nach dem Hochschulabschluss am meisten von Unterbeschäftigung betroffen", so der Bericht des britischen Strada-Institutes. 

"Auch in Deutschland haben Menschen mit Migrationshintergrund ein höheres Risiko für Beschäftigungsinadäquanz."
Dr. Nancy Kracke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am DZHW

"Auch in Deutschland haben Menschen mit Migrationshintergrund ein höheres Risiko für Beschäftigungsinadäquanz", so Kracke. Verschiedene Strukturen führen laut der DZHW-Expertin dazu: Sich auf eigene Netzwerke verlassen und in diesem Zusammenhang auch mangelndes Wissen über den Arbeitsmarkt und Bewerbungsstrategien. "Da könnten offizielle Stellen unterstützender sein und Personen mit Migrationshintergrund mehr ermutigen", wünscht sich Kracke. Um die Situation zu verbessern, wäre es laut ihr außerdem gut, wenn die im Ausland erworbenen Abschlüsse schneller und zahlreicher anerkannt würden. Weitere Aspekte, die eine Rolle dabei spielen, ob Akademikerinnern und Akademiker in einem ihrer Qualifikation entsprechendem Beruf arbeiten, sind laut Kracke: die soziale Herkunft, das Geschlecht und ob sie Kinder haben oder nicht. "Frauen – vor allem mit Kindern", sagt Kracke, "haben ein höheres Risiko für Beschäftigungsinadäquanz." 

Das deckt sich auch mit den Ergebnissen des diesjährigen Barometers für Wissenschaft des DZHW, laut dem Geschlechts- und Altersdiskriminierungen häufig anzutreffen sind und Männer zufriedener mit ihrer Work-Life-Balance sind als Frauen. Insbesondere Juniorprofessorinnen sind unzufriedener als ihre männlichen Kollegen oder Kolleginnen ohne Kinder. "Die Geburt des Kindes führt", so Kracke, "tendenziell dazu, dass Frauen ihre Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt reduzieren, während bei Männern das Gegenteil der Fall ist." 

Ausstieg aus der Wissenschaft trotz hoher Adäquanz 

In Deutschland haben trotz dieser Faktoren wie eingangs konstatiert, insgesamt nur ein Fünftel der Akademikerinnen und Akademiker mit Beschäftigungsinadäquanz zu kämpfen. Umso überraschender ist es, dass die Hälfte der Befragten (57 Prozent) des Barometers für Wissenschaft ernsthaft über einen Ausstieg aus der Wissenschaft nachdenkt. Kracke, die derzeit einen Artikel zu Beschäftigungsadäquanz von Promovierten in Deutschland verfasst, meint, dass man weit dafür ausholen müsse, um das zu erklären. 

Durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das die Beschäftigung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und vor allem auch den Zeitraum regelt, "fallen danach ganz viele einfach aus dem Wissenschaftssystem", sagt Kracke. Laut ihr fehlt es vor allem am akademischen Mittelbau und an entfristeten Stellen. Das Problem derzeit sei, dass die Wissenschaftskarriere auf die Professur abzielt. "Aber das funktioniert natürlich nicht, weil es nicht genügend Stellen dafür gibt", so Kracke. 

Das deckt sich auch mit den Ergebnissen des Barometers der Wissenschaft: Unzureichende Betreuung und eingeschränkte Karriereperspektiven sowie nicht wettbewerbsfähige Einkommensmöglichkeiten werden als Grund für das Ausscheiden aus dem Wissenschaftsbetrieb genannt. "Und selbst diejenigen, die bleiben, sind unzufrieden", sagt Kracke. Das Barometer der Wissenschaft bestätigt, dass sie unter hoher Arbeitsbelastung und unzureichenden beruflichen Perspektiven leiden, vor allem Juniorprofessorinnen und Juniorprofessoren. 

"Der Knackpunkt hinsichtlich der Beschäftigungsadäquanz ist", so Kracke, "wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Wissenschaftsbetrieb aussteigen." Denn die Wahrscheinlichkeit danach nicht adäquat beschäftigt zu sein, sei dann höher, wobei es auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebes Positionen für Promovierte gebe: vor allem im öffentlichen Dienst, großen Unternehmen und forschungsnahen Instituten. 

Beschäftigungs-Inadäquanz nicht rein negativ zu bewerten 

"Es ist allerdings sehr schwer zu erforschen", sagt Kracke, "wie stark die Selbstselektion bei Beschäftigungs-Inadäquanz ist." Denn Akademikerinnen und Akademiker können sich natürlich auch selbst entscheiden, einen anderen Beruf zu wählen. Und das aus sehr individuellen Gründen, beispielsweise der Wunsch nach einem anderen Arbeitsumfeld, nach mehr Flexibilität oder mehr Freizeit. 

"Monetär betrachtet zeigen Studien allerdings, dass sich Beschäftigungsinadäquanz immer negativ niederschlage und auch die Arbeitszufriedenheit damit stark abnehme."
Dr. Nancy Kracke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am DZHW

Deswegen sei Beschäftigungsinadäquanz nicht ausschließlich negativ zu bewerten, so Kracke. "Monetär betrachtet zeigen Studien allerdings, dass sich Beschäftigungsinadäquanz immer negativ niederschlage und auch die Arbeitszufriedenheit damit stark abnehme", so Kracke. Für die Zukunft würde sie sich wünschen, dass Frauen mit Kindern gleiche Bedingungen für Beschäftigungs-adäquanz bekommen und, dass sie nicht automatisch in Teilzeit arbeiten müssen.