Eine junge Frau ist mit Mantel und Mütze von hinten zu sehen zwischen vielen grauen Steinquadern. Sie fotografiert mit ihrem Smartphone.
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Internationaler Holocaust-Gedenktag
"Man war es an Universitäten lange nicht gewohnt, mit Antisemitismus umzugehen"

Am 27.1. wird weltweit an die Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist hochaktuell.

26.01.2024

Antisemitische Ressentiments sind in Deutschland nie wirklich verschwunden, sie treten nur oft in verdeckter Form auf, erklärt zu diesem Anlass Prof. Dr. Gert Pickel von der Universität Leipzig. Er ist stellvertretender Sprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus und Demokratieforschung (KReDo) und neu gewählter Antisemitismusbeauftragter der Universität. 

Antisemitismus laut Experten präsenter, sagbarer und aggressiver 

Die Leipziger Autoritarismus-Studie erhebt unter anderem regelmäßig, wie weit verbreitet antisemitische Ressentiments in Deutschland sind. Pickel erklärt, welche Bevölkerungsgruppen dabei herausstechen und welche Entwicklungen zu beobachten sind: "Ein tradierter und offener Antisemitismus ist seit 2002 zurückgegangen. Es können nur noch etwas mehr als 3 Prozent der Deutschen als überzeugte Antisemit:innen gelten (…). Antisemitische Ressentiments haben also nicht wirklich zugenommen, sie werden nur im öffentlichen Leben präsenter – und sind scheinbar sagbarer geworden. Sie finden sich besonders stark im extrem rechten politischen Spektrum bis hin zur Mitte der Gesellschaft sowie in Teilen in muslimischen Communities. (…) Antisemitische Ressentiments sind zudem unter jüngeren Menschen in Deutschland seltener verbreitet als unter älteren Menschen, was besonders stark für den Schuldabwehr-Antisemitismus gilt". 

Nach Worten des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, hat Antisemitismus in Deutschland sowohl quantitativ wie qualitativ eine neue Dimension erreicht. So seien im gesamten Jahr 2022 in Deutschland mehr als 2600 antisemitische Straftaten registriert worden. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober seien bereits deutlich mehr als 1.200 antisemitische Straftaten zu verzeichnen gewesen, sagte Haldenwang kürzlich dem ARD-Politikmagazin "Kontraste". Es sei beschämend, wie offen in dem Land, von dem der Holocaust ausgegangen ist, inzwischen Antisemitismus gezeigt werde, sagte der Verfassungsschutz-Chef. 

Wege aus dem Antisemitismus 

Seit dem Terrorangriffe der Hamas vom 7. Oktober 2023 sei laut Pickel auch eine starke Solidarität in der deutschen Bevölkerung wahrzunehmen. Diese sei auch aus der stark belasteten Vergangenheit zu erklären. Diese Vergangenheit habe nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch über persönliche Besuche von Deutschen in Israel und eine gestiegene Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu besonderen Beziehungen zu Israel geführt. 

Der Antisemitismusbeauftragte Pickel zeigt sich gegenüber “Forschung & Lehre” ideenreich, was die Möglichkeiten angeht, den Ressentiments effektiv entgegenzuwirken: "Die beste Möglichkeit, Antisemitismus abzubauen, ist das persönliche Gespräch mit jüdischen Mitbürger:innen. Zweifelsohne hilfreich ist eine bereits frühe Auseinandersetzung mit Antisemitismus, zum Beispiel in der Schule. Dies setzt das frühe Erlernen eines differenzierten Umganges mit Antisemitismus von Lehrenden an Universitäten voraus. Ebenfalls wichtig ist eine Wahrnehmung und Auseinandersetzung von Antisemitismus in der Gesellschaft und der Politik, jenseits von konkreten Ereignissen und Terroranschlägen." 

“Die beste Möglichkeit, Antisemitismus abzubauen, ist das persönliche Gespräch mit jüdischen Mitbürger:innen.”
Prof. Dr. Gert Pickel, Antisemitismusbeauftragter der Universität Leipzig. 

Ulrich Herbert, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg, formuliert gegenüber „Forschung & Lehre“ vor allem den Bedarf an individuellem Wissen: "Es wäre sicher gut, wenn wir uns in Deutschland stärker mit dem Vorgang des millionenfachen Massenmords an den Juden und an vielen anderen Gruppen – den sowjetischen Kriegsgefangenen, der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten, den Sinti und Roma, den Behinderten –, also mit den Verbrechen selbst beschäftigten als mit der Frage der angemessenen Betroffenheit. Eine solche Beschäftigung aber ist kein kollektiver, sondern eher ein individueller Prozess; und auch nicht in erster Linie ein Problem des Unterrichts an den Schulen, die ohnehin überfordert sind. Mein israelischer Kollege Yehuda Bauer hat das so erklärt: 'Die Lektüre eines einzigen Taschenbuchs über die Geschichte des Judenmords ist mehr wert als der Besuch von drei Gedenkveranstaltungen'. Es geht dabei also weniger um Deklaration der Ergriffenheit als um die Beschäftigung mit der Sache selbst. Weniger um Haltung als um Wissen." 

Insbesondere für die Vermittlung von Wissen und das Erzeugen von Interesse bei jungen Menschen hat sich die 2021 gegründete "Shoah-Gedenk- und Bildungsinitiative" laut Recherchen von Table.Media nun die Ausrichtung auf Schulen vorgenommen. TikTok unterstütze auf seiner Plattform bislang 20 Gedenkstätten weltweit bei ihrer Erinnerungsarbeit mit zielgruppengemäßen Video-Formaten. 

Auseinandersetzung mit Antisemitismus an den Hochschulen 

Bezüglich der aktuell geführten Debatten an den Universitäten zu den Themen Nahostkonflikt und Antisemitismus äußert sich Pickel gegenüber "Forschung & Lehre" zuversichtlich, was die Lernfähigkeit und den Zuwachs an Kompetenzen angeht: "Die Debatten-, aber auch die Wissenskultur an Universitäten muss sich an dieser Stelle erst finden. Man war es an Universitäten lange nicht gewohnt, mit Problemen wie Antisemitismus und Rassismus umzugehen. Dies sind aber Themen, die gerade Studierende immer mehr und häufiger interessieren und in Seminare, wie auch Debatten tragen. Zum einen brauchen wir an Universitäten Kompetenz über Antisemitismus und Rassismus, zum anderen ist kein anderer Ort besser geeignet mit dem komplex gewordenen Thema umzugehen." 

“Man war es an Universitäten lange nicht gewohnt, mit Problemen wie Antisemitismus und Rassismus umzugehen.”
Prof. Dr. Gert Pickel, Antisemitismusbeauftragter der Universität Leipzig. 

Pickel ergänzt, dass Universitäten ein Forum für wissenschaftlichen Diskurs und persönlichen Dialog bieten müssen: "Die auf differenzierte Sichten ausgerichtete Universität, muss in der Lage sein, Studierende, die aus postkolonialer und rassismuskritischer Perspektive einen kritischen Blick auf Israel besitzen (…), mit Studierenden, die sich gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben engagieren, ins Gespräch zu bringen. Dies wird eine inhaltliche und organisatorische Aufgabe der Zukunft sein." 

Studie: Multidimensionaler Erinnerungsmonitor (MEMO)

Corinna Jentzsch von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ), wird in der aktuellsten MEMO-Studie von 2022 als recht zufrieden mit der politischen Bildung zitiert: "Die in Deutschland Befragten verorten die Allgemeine Erklärung der Menschenreche und die systematische Verfolgung und Ermordung von Menschen während des Zweiten Weltkriegs als die wichtigsten Elemente einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur. Sie teilen damit klar die Ziele der historisch-politischen Bildung in der Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus, konkreter der Gedenkstättenpädagogik und Holocaust Education." Dennoch habe ein bedenklich hoher Anteil von Befragten den Aussagen zu den zentralen Eckpunkten der europäischen Geschichte nicht zugestimmt. 

Seit 2017 untersuchen die Studien im Rahmen des Multidimensionalen Erinnerungsmonitors (MEMO) anhand repräsentativer Umfragen den jeweils aktuellen Zustand und die Entwicklungen der Erinnerungskultur mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Ein Fokus liegt dabei auf dem Erinnern an die Shoah und die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen und Menschengruppen in der Zeit des Nationalsozialismus. 

Die MEMO-Studie fasst bezüglich Altersgruppen zusammen: "Die Daten zeigen, dass insbesondere jüngere Befragte sich im Verlauf der letzten Jahre zunehmend klarer gegen einen ‚Schlussstrich‘ unter die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit aussprechen." 

Junge Menschen stoßen das Thema Holocaust in Familien an 

Diese Erkenntnis, dass junge Menschen sich für die NS-Zeit und den Holocaust interessieren, wird durch eine aktuelle Studie bestätigt. 30 ausführlichen Interviews ging eine repräsentative Online-Befragung von 466 Rheinland-Pfälzern voraus. Demnach wird in rheinland-pfälzischen Familien selten über den Holocaust gesprochen. Mehr als die Hälfte der Befragten habe angegeben, selten oder nie über das Thema zu Hause zu sprechen, sagte Inka Engel von der Universität Koblenz am Dienstag bei der Vorstellung der Ergebnisse des vom Landtag beauftragten Forschungsprojekts in Mainz diese Woche. In den Familien, in denen über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg gesprochen werde, stoße oft die Generation der Enkel dieses Thema an. 

Bis zum Sommer sollen Handlungsempfehlungen erarbeitet und eine Wanderausstellung konzipiert werden. Eine im Weinberg vor den Nazis versteckte Heckenschere und ein Löffel, ein Schachbrett aus dem KZ Buchenwald sowie viele Fotos und Zeichnungen: Solche Familien-Erinnerungen sollen in der geplanten Wanderausstellung zu sehen sein. Die Hunderttausend Motivierten, die derzeit gegen Rechtsextremismus auf die Straßen gingen, bräuchten zudem «sehr schnell» Handlungsempfehlungen, das in den Alltag zu integrieren, sagte Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD). 

Gedenken mit Hilfe von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bald unmöglich 

Die Zahl der wichtigen Zeitzeugen schwindet schnell. Nach der von der Claims Conference veröffentlichten Studie lebt fast die Hälfte aller Überlebenden der Schoah, wie der Holocaust in Israel genannt wird, in Israel (49 Prozent). 16 Prozent leben in den USA und 17,5 Prozent in Westeuropa. In Europa leben die meisten Überlebenden in Frankreich (21.900), in Deutschland sind es 14.200 Überlebende. 95 Prozent der Überlebenden sind sogenannte Child Survivors, sie waren am Ende des Zweiten Weltkriegs im Durchschnitt erst sieben Jahre alt. Das Durchschnittsalter der Überlebenden liegt bei 86 Jahren. Die älteste Überlebende ist 112 Jahre alt. 

Gideon Taylor, Präsident der Claims Conference, schrieb: “Die von uns erhobenen Daten zeigen uns nicht nur, wie viele Überlebende es gibt und wo sie leben. Sie machen außerdem deutlich, dass die meisten Überlebenden einen Lebensabschnitt erreicht haben, in dem sie immer mehr Betreuungs- und Pflegeleistungen benötigen.” Diesen Menschen müsse nun doppelt so viel Aufmerksamkeit gegeben werden. "Denn jetzt brauchen sie uns am nötigsten", betonte Taylor. Die nach dem Zweiten Weltkrieg 1951 gegründete Claims Conference mit Sitz in New York kümmert sich in Zusammenarbeit mit 300 Hilfsorganisationen in mehr als 90 Ländern um Ansprüche jüdischer Überlebender und um deren Wohl.

Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts 

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Seit 1996 gedenkt Deutschland an diesem Tag der Opfer des Nationalsozialismus. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hatte den Gedenktag angeregt. Seit 2002 wurde es ein EU-weiter, drei Jahre später ein internationalen Gedenktag.

cva/dpa