Zahlreiche Menschen sind bei einer Demonatration gegen Rechtsextremismus und für demokratisiche Werte auf der Straße.
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Proteste gegen Rechtsextremismus
Erfahrungen in politischen Debatten wichtiger als Fakten

In Deutschland haben Hunderttausende gegen Rechtsextremismus demonstriert – die Wissenschaft erforscht, ob das depolarisieren wird.

22.01.2024

Hunderttausende Menschen sind am Wochenende bundesweit für Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen. Die größten Gruppen kamen in Berlin und München zusammen. Gemäß Aussagen der Polizei waren es dort bis zu 100.000 Demonstrierende. Laut Mitveranstalter am Sonntag in Berlin sogar 350.000 und in München rund 250.000 Teilnehmende. Dort musste, wie in Hamburg aufgrund der vielen Teilnehmenden von 50.000, die Demonstrationen abgebrochen werden. In Bremen waren es genauso viele. 

Aber nicht nur im Norden gingen viele gegen Rechtsextremismus auf die Straßen. In Köln waren es 70.000, in Frankfurt 40.000, in Hannover 35.000, in Dortmund 30.000, in Karlsruhe und Stuttgart jeweils 20.000 in Heidelberg 18.000, in Nürnberg 15.000 Demonstrierende. Insgesamt gehen die Organisatoren von 1,4 Millionen Menschen aus, die von Freitag bis Sonntag an den Demonstrationen teilnahmen. 

"Im Moment erleben wir eine Protestwelle, die sich eher noch aufbaut", sagt Protestforscher Dr. Alexander Leistner von der Universität Leipzig, der am Sonntag auch demonstriert hat. "Ich hab mich an den Startpunkt der Demonstration gestellt und die Zeit gestoppt bis über eine Stunde später das Ende des Zuges vorbei gelaufen ist", so Leistner gegenüber Forschung & Lehre, "das zeigt ganz anschaulich über welche Dimensionen wir gerade reden. In Leipzig etwa war es mit 60.000 Teilnehmenden die größte Demonstration seit 1991." Gemessen an der kurzen Vorlaufzeit sei laut Leistner "die Dynamik, die Größe, die Breite der Teilnehmenden und auch die Ausbreitung selbst in Mittel-und Kleinstädten schon außergewöhnlich." Interessant sei laut dem Protestforscher, "ob sich ob dieser Aufbruchsimpulse auch in den kleinstädtisch-ländlichen Räumen Ostdeutschlands Wirkung entfaltet". 

"In Leipzig etwa war es mit 60.000 Teilnehmenden die größte Demonstration seit 1991."
Protestforscher Dr. Alexander Leistner von der Universität Leipzig

Politische Haltungen haben viel mit Zugehörigkeitsgefühl zu tun 

Dabei spielt die politische Polarisierung eine entscheidende Rolle, mit der sich auch die Forschung schon seit Jahren beschäftigt. In einer Studie der Stanford University, versuchte ein Forschungsteam herauszufinden “mit welchen Interventionen sich affektive Polarisierung reduzieren lässt", erzählt der beteiligte Jan Gerrit Voelkel dem Tagesspiegel. Sein Team stellte fest: "Wenn eine Person, die rechts ist, mit einer politisch eher links stehenden ein gutes Gespräch haben kann, kann das selbst Beobachter dieses Gesprächs depolarisieren." Diese Erfahrung reduziere die polarisierte Haltung gegenüber der anderen Gruppe am besten. "Wenn man eine Person aus der anderen Gruppe sympathisch findet, dann hat das einen Effekt auf die Wahrnehmung der gesamten Gruppe und kann zu Depolarisierung führen," so Voelkel. 

 "Wenn man eine Person aus der anderen Gruppe sympathisch findet, dann hat das einen Effekt auf die Wahrnehmung der gesamten Gruppe und kann zu Depolarisierung führen."
Jan Gerrit Voelkel 

"Wer die Funktionsweise des Gehirns kennt, für den ist das verständlicher", sagt Timothy Phillips, Gründer von "Beyond Conflict" und seit Jahrzehnten aktiv in der Konfliktbewältigung auch für die Vereinten Nationen, dem Tagesspiegel. Wo Populisten zur Rechenschaft gezogen werden, steige ihre Unterstützung. Denn das zahle auf die tief empfundene Opferrolle ein, über die sich die der Gruppe zugehörig Fühlenden identifizieren. Sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen und andere Menschen abzuwerten, ist laut der jahrelangen Forschung ein elementar menschliches Verhalten, weil es für den Menschen seit Urzeiten bedrohlich ist ausgeschlossen zu werden. Das erklärt auch den Stand der aktuellen Forschung, die zeigt, "dass der menschliche Verstand häufiger irrational als rational handelt", so Philipps. 

Das fand auch Psychologin Emily Kubin, die 2020 an der Uni Koblenz-Landau zusammen mit Kollegen der University of North-Carolina dazu forschte, heraus. Ihr Ergebnis: bei politischen Meinungsverschiedenheiten kommt es weniger auf objektive Fakten an, als auf auf persönliche Erfahrungen. Entscheidend dabei auch Empathie – die verschwindet in Konfliktsituationen nicht, wie, Hirnforscherin Rebecca Saxe und Friedens-und Konfliktforscher Emile Bruneau, beide vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) herausfanden. Sondern ihr Gehirn lernt durch Hass und Abgrenzung das Mitgefühl so stark zu reduzieren, dass andere Menschen nicht mehr als solche empfunden werden und damit verbundene Gräueltaten möglich werden. 

Rolle der Hochschulen beim "gesellschaftlichen Weckruf" 

Auch für die aktuelle Dynamik scheinen emotionale Faktoren eine Rolle zu spielen. Laut Protestforscher Leistner gibt es zwei Ursachen für die aktuellen Entwicklungen: Zum einen die Stärke der AfD in den Prognosen zu den Landtagswahlen in diesem Jahr, wo sie in Thüringen, Sachsen und Brandenburg gerade die stärkste Kraft zu sein scheint. Und die Enthüllungen über die Deportationspläne. "Dieses plötzlich sehr greifbare Drohszenario aus beiden Entwicklungen hat vor allem aufgerüttelt", sagt Leistner gegenüber Forschung und Lehre. "Die Demonstrationen waren hier ein erster Schritt einer öffentlichen Selbstvergewisserung: das Sichtbar- und Bewusstmachen, was mit Blick auf die Demokratie auf dem Spiel steht", so Leistner weiter. 

Laut ihm entsteht durch den "gesellschaftlichen Weckruf" gerade eine Bewegung in viele Richtungen, wo wahrscheinlich auch Forschende auf die Straßen gegangen sind. Für Leistner stellt sich darüber hinaus aber noch eine grundsätzliche Frage: “Bräuchte es nicht auch eine Diskussion über hochschul- und wissenschaftspolitische Szenarien zunächst für die Bundesländer, wo die AfD prognostiziert stärkste Kraft ist und Wahlen anstehen? Und was würde dies kurz-, mittel- oder langfristig für die Hochschullandschaft und das Klima für die Freiheit von Forschung bedeuten?” Diese Selbstverständigung steht in den Augen von Leistner nun an und könnte auch einschließen, sich mit Forschenden von polnischen oder ungarischen Hochschulen auszutauschen, die laut Leistner viele und sehr konkrete Erfahrungen gemacht haben.

kfi