Ein grau-schimmernder Strudel.
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Arbeitsalltag
Beschleunigung und Entfremdung in der Arbeitswelt

Welche Folgen hat die Beschleunigung für die Beziehung des Menschen zu seiner Arbeit? Hartmut Rosa erläutert im Gespräch moderne Arbeitssituationen.

Von Friederike Invernizzi 19.03.2024

Forschung & Lehre: Herr Professor Rosa, Sie diagnostizieren eine wachsende Beschleunigung in der Welt, in der wir leben. Inwieweit prägt das die Arbeitswelt an den Hochschulen und generell in der Wissenschaft? 

Hartmut Rosa: Hochschulen und andere Arbeitsorte in der Wissenschaft sind in sehr hohem Maße beschleunigte Umgebungen. Man kann verschiedene Formen der generellen Beschleunigung sehr gut beschreiben. Da sind zunächst die technischen Beschleunigungen zu nennen, mit denen wir es im Zuge von Digitalisierung in allen möglichen Hinsichten besonders viel zu tun haben. Insbesondere der E-Mail-Verkehr hat zugenommen, aber auch die Konferenzen über verschiedene digitale Plattformen. Außerdem ist die Forschungscommunity eine besondere Art von Jetset-Community, die durch die Welt reist und mal hier mal dort eine Konferenz oder eine Fachtagung besucht. 

Akademikerinnen und Akademiker pendeln zudem über große Distanzen, auch über Landesgrenzen hinweg. Wenn sie den Arbeitsort wechseln, dann ziehen sie immer weniger um. Außerdem sehen wir eine Beschleunigung des sozialen Wandels, zum Beispiel beim Lebenstempo. Die explodierenden To-Do-Listen kann man bei den Studierenden bis hin zum Professor oder zur Professorin beobachten. Um mehr erledigen zu können, wird das Lebenstempo erhöht. Die Auswirkungen sieht man an den zunehmenden Erschöpfungszuständen der Menschen bei gleichzeitiger Zunahme psychischer Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen.

Ein Mann mit rotbraunem Haar, rosa Hemb und graumeliertem Jacket im Porträt.
Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und zugleich seit 2013 Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt. Jürgen Bauer/FSU Jena

F&L: Was sind die treibenden Kräfte der wachsenden Beschleunigung in der Arbeitswelt? 

Hartmut Rosa: Moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen. Das bedeutet, dass sie strukturell auf Wachstum und mit der damit einhergehenden Beschleunigung angewiesen sind, um zum einen ihren Bestand zu erhalten und zum anderen sich zu erneuern. Um unseren Wohlstand zu sichern, muss unsere Wirtschaft wachsen, was immer auch mit Beschleunigung einhergeht. So kann der Innovationsprozess beim Gesundheits- und Versorgungssystem, beim Bildungswesen und beim Kulturbetrieb aufrechterhalten werden. Ein wesentlicher Treiber ist hier die Bewegung des Kapitals, zum Beispiel auf den Finanzmärkten. 

F&L: Kann man dies auch in Wissenschaft und Forschung beobachten? 

Hartmut Rosa: Die Eigenlogik der Forschung hängt an dieser Logik, letztere ist aber nicht die Ursache. Die Wissensbestände der Gesellschaft, die es in allen Kulturen gibt, werden auf der einen Seite als "Wissensschatz" betrachtet. 

Dieses Wissen soll von Generation zu Generation mit großem Aufwand weitergegeben werden mit dem Gedanken, es zu erhalten, wie es war. Gleichzeitig jedoch verspricht Forschung ununterbrochen, dass der Horizont des Gewussten ausgedehnt werden soll. 

Es geht letztlich nicht darum, Wissen zu erhalten. Forscherinnen und Forscher sagen heute: Ich werde etwas erforschen, was sich noch keiner angeschaut hat, und multipliziere das Wissen. Diese Logik dieser bereits beschriebenen dynamischen Stabilisierung geht mit Beschleunigung einher. Das ist ein Phänomen, das man nicht einfach dem Kapitalismus in die Schuhe schieben kann.

F&L: Dieses Phänomen hat natürlich Folgen für die Arbeitsprozesse in der Wissenschaft… 

Hartmut Rosa: Man sieht die Beschleunigung beispielsweise im Publikationswesen. Wir schreiben in immer kürzerer Zeit immer mehr und setzen uns gleichzeitig mit immer mehr Geschriebenem auseinander. Ich kenne fast niemanden, der das nicht dysfunktional findet. Man hat nicht genug Zeit, gut zu schreiben, und man kann das Geschriebene gar nicht mehr rezipieren. Noch dazu kommen Peer-Review-Verfahren, wodurch diese Arbeitsprozesse völlig aus den Fugen geraten und wir in gewisser Weise lahmgelegt werden. 

F&L: Entstehen da nicht Gefühle der Unfreiheit, des Zwangs, sich dieser Beschleunigung anpassen zu müssen? 

Hartmut Rosa: Aus der Sozialpsychologie wissen wir, dass je mehr man Menschen durch Konkurrenz und durch Zeitverknappung unter Druck und damit unter Stress setzt, sie umso mehr in für sie bekannten und vertrauten Bahnen laufen, um diesen Gefühlen Herr zu werden. 

Forscherinnen und Forscher sind daher geradezu gezwungen, den Horizont des Suchens einzuschränken. Sie versuchen, die altbekannten Lösungen und die schon sichtbaren Wege zu bestreiten, und eben nicht den Horizont zu weiten. Man kann sogar beobachten, dass die Empathiefähigkeit eingeschränkt wird, die meiner Ansicht nach mit investigativer oder wissenschaftlicher Kreativität zusammenhängt. Die Logik des beschleunigten wissenschaftlichen Produzierens und Konsumierens sorgt für eine Verengung.

"Die Logik des beschleunigten wissenschaftlichen Produzierens und Konsumierens sorgt für eine Verengung."
Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena 

F&L: Würden Sie sagen, dass die Arbeitswelt in Wissenschaft und Forschung härter geworden ist?

Hartmut Rosa: Ich tue mich mit dieser Frage ein bisschen schwer, denn wir sind schnell geneigt, wahrnehmbare Trends oder Situationen als Verschlechterung zu interpretieren, ohne dass es geprüft und belegt ist. Das gilt eben auch für die Frage, ob die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sich verschlechtert haben. Intuitiv würde ich aber zustimmen, dass es härter geworden ist. 

F&L: Wo liegen die Gründe für das Gefühl? 

Hartmut Rosa: Was Menschen meines Erachtens wirklich Druck macht, ist, dass es praktisch in keiner Lebensdimension mehr so etwas wie einen unverrückbaren Platz in der Welt gibt. Feste Lebensorte und -formen lösen sich auf. Partnerschaften sind zeitlich markiert: Im Moment leben wir zusammen, aber keiner weiß, wie das weitergeht. Das betrifft Berufs- und Tätigkeitsfelder ebenso wie religiöse und politische Orientierungen, die so etwas wie ein Anker in der Welt sein können. 
 

Das soll nicht als Kritik von mir verstanden werden, weder am Menschen als solchem oder am System. Ich stelle nur fest, dass es unter den gegebenen Bedingungen fast unmöglich ist, so etwas wie eine genaue Markierung im Leben zu haben. Dadurch entsteht in der Gesellschaft ein Gefühl extremer Prekarität, selbst da, wo es eigentlich keine eindeutigen ökonomischen Gründe gibt.

F&L: Wie meinen Sie das? 

Hartmut Rosa: Im Hinblick auf die Beschäftigung in Wissenschaft und Forschung meine ich, dass sich im akademischen Bereich insgesamt die Chancen erhöht haben, eine sichere Beschäftigung zu finden. Das zeigen jedenfalls die Verbleibstudien. Es gibt beispielsweise insgesamt nicht nur mehr Stipendien, sondern auch mehr Promotionsstellen als früher. Da sehe ich keine wachsende Härte oder gar Ungerechtigkeit. In unserer Generation waren Stipendien auf maximal zwei bis drei Jahre angelegt, und die Aussicht, etwas zu bekommen, war überall schlechter als heute. Daher meine ich, dass es jenseits des Gefühls eines Verlusts des festen Platzes in der Welt nicht schwieriger geworden ist, in der akademischen Welt Fuß zu fassen. 

F&L: Das gilt aber wahrscheinlich nicht für die gesamtgesellschaftliche Situation… 

Hartmut Rosa: Generell nimmt die soziale Ungleichheit in den Gesellschaften zu, vor allem durch Vermögensungleichheit, die eine "seiende" Ungerechtigkeit ist. Daher wird die Welt insgesamt ein ungerechterer Ort für die Menschen sein, denn der Graben zwischen denen, die Vermögen in unbekanntem Ausmaß haben werden, und denen, die besitzlos sein werden, wird immer größer. 

"Generell nimmt die soziale Ungleichheit in den Gesellschaften zu, vor allem durch Vermögensungleichheit, die eine "seiende" Ungerechtigkeit ist."
Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie

F&L: Kommen wir noch einmal auf die Prozesse zurück, die unsere westliche Gesellschaft kennzeichnen und zu dem machen, wie sie heute ist, auch in der Arbeitswelt. Sie haben dazu den Begriff der "Desynchronisation" aufgebracht. Was genau beschreiben Sie damit? 

Hartmut Rosa: Grundsätzlich besteht in unserer Gesellschaft ein Gefühl der Krise, ein Gefühl, das "etwas" nicht stimmt, das Wut und Aggression erzeugt. Das ist sicherlich auch durch äußere Faktoren bestimmt, wie Inflation, Klimawandel und ähnliches. Dass wir in einem gewissen Aggressionsverhältnis zur Welt stehen, hat jedoch auch strukturelle Ursachen. Das kann man mit dem Desynchronisationsbegriff ganz gut erklären. 

Da moderne Gesellschaften zu permanenter Steigerung des Tempos, insbesondere in der Arbeitswelt, gezwungen sind, wird deutlich, dass bestimmte Bereiche des Lebens oder der Gesellschaft nicht gleichermaßen in der Lage sind, zu beschleunigen. Das heißt, dass manche Prozesse, Segmente oder soziale Gruppen sich leicht dynamisieren lassen und andere nicht. Und überall da, wo die einen an Tempo zulegen oder auch manche Prozesse schneller werden, kommen die langsamen unter Druck. Desynchronisation zeigt sich daran, dass das Schnelle das Langsame unter Druck setzt, es überfordert und damit in der Folge krank macht. Das kann man meiner Ansicht nach auf allen Ebenen der Gesellschaft beobachten. 
 

"Manche Prozesse, Segmente oder soziale Gruppen lassen sich leicht dynamisieren und andere nicht."
Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie

F&L: Können Sie das an einem Beispiel veranschaulichen? 

Hartmut Rosa: Unsere gegenwärtige Demokratiekrise entsteht meines Erachtens dadurch, dass durch die beschleunigte Willensbildung weniger Zeit da ist, um Positionen zu wichtigen Themen zu entwickeln, zu artikulieren und miteinander ins Verhältnis zu bringen. In einer funktionierenden Demokratie müssen Argumente getestet und Positionen geschärft werden, um dann zu einer gemeinsamen Willensbildung zu kommen. 

Es geht in einer Demokratie nicht nur um das Abstimmen oder darum, eine Meinung kundtun zu können. Demokratische Prozesse sind daher sehr zeitaufwändig. Ganz generell kann man außerdem sagen, dass wir Menschen inhärent Zeitgrenzen haben. Unsere Körper können nicht beliebig beschleunigt werden und unsere Seelen auch nicht. Wenn das Tempo der Gesellschaft zu hoch ist, dann haben wir eine Überforderung, die auf der individuellen Ebene zu psychischen Beschädigungen führen kann. 

F&L: Entfremden wir uns in diesem Prozess von uns und von unserer Arbeit? 

Hartmut Rosa: Ja, das Entfremdungsgefühl ist eine Folge der Desynchronisation auf der psychischen Ebene. Da schnelle und langsame Prozesse nicht mehr übereinander gebracht werden können, haben die Menschen das Gefühl, dass etwas entzwei geht, dass die Fähigkeit abhandenkommt, sich Dinge anzuverwandeln. Es entsteht ein Bruch zwischen dem Tun aufgrund einer gesellschaftlichen Situation und dem inneren Erleben. Man stellt sich dann Fragen wie "Was tue ich hier eigentlich?" oder "Warum bin ich hier?" 

In der Philosophie beschreibt man das als "Beziehung der Beziehungslosigkeit", wenn es einem nicht mehr gelingt, eine wirkliche Beziehung herzustellen zu anderen Menschen, zu Lehrenden und Lernenden oder zu Kolleginnen und Kollegen und generell zur Arbeit. 

"Es entsteht ein Bruch zwischen dem Tun aufgrund einer gesellschaftlichen Situation und dem inneren Erleben."
Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie

F&L: Wenn Sie dabei auf die Forscherinnen und Forscher schauen… 

Hartmut Rosa: Auch hier kann es passieren, dass Forscherinnen und Forscher einen Aufsatz oder einen Antrag schreiben, sich dann noch um ein Peer-Review-Gutachten kümmern und noch eine Masterarbeit betreuen, und merken, wie sie innerlich immer mehr versteinern. Es fehlt genau an dem, was ich Resonanz in Beziehungen nenne, an dem wirklichen Interesse an der Sache. Es mangelt an Erfahrung von Selbstwirksamkeit verbunden mit dem Gefühl, dass man etwas bewegen kann und sich dadurch verwandelt und lebendig fühlt. 

F&L: Was genau meinen Sie mit Resonanz? 

Hartmut Rosa: Wenn ich in Resonanz gehe, erlebe ich etwas, was mich wirklich berührt. Es findet eine Affizierung statt. Auf einer weiteren Ebene erlebe ich Selbstwirksamkeit. Ich gehe dem entgegen und mache etwas damit. In einem nächsten Schritt lasse ich mich transformieren. Zentraler Punkt dabei ist, dass ich Resonanz nicht selbst herstellen kann. Ich weiß nicht, wann sie eintritt, wie lange sie dauert, und ganz wichtig, ich weiß nicht, was dabei herauskommt. Ich lasse mich beispielsweise auf ein Gespräch oder auf eine Beziehung ein, bei der ich nicht weiß, ob sie klappt und was dabei herauskommt. 

F&L: Welche Möglichkeiten haben wir, um etwas gegen das von Ihnen angesprochene Entfremdungsgefühl zu tun? 

Hartmut Rosa: Wir können die Dinge nicht verändern, wenn wir nicht eine Idee oder eine Vision entwickeln. Und diese Vision kann nicht heißen: Machen wir alles einfach langsamer. Meine Vorstellung ist, ein anderes Weltverhältnis zu entwickeln, um damit in eine andere Art von Beziehung zu den Menschen und zur Natur zu kommen. Man könnte es mit einer neuen Form von Solidarität oder Nachhaltigkeit bezeichnen, indem ich versuche, auf andere Weise mit mir selbst umzugehen, mit meinem Körper und meiner Seele, auch mit meinen Schwächen oder meinen Krankheiten. 

Es geht darum, eine Gegenidee zu entwickeln im Sinne eines neuen Resonanzverhältnisses, wo es nicht das einzige Ziel ist, sich wohlzufühlen, sondern wo durchaus auch Widerstreit oder Konflikt eine Rolle spielen können. Das Problem ist, dass wir diese Resonanz in Oasen schieben. Wer den ganzen Tag Stress hat, der möchte sich danach nur verwöhnen lassen. Damit verfehlen wir ein resonantes Weltverhältnis. Das Entscheidende ist, in Kontakt mit etwas zu kommen, was mich herausfordert, was mich bewegt, in jeglicher Hinsicht. Wir brauchen als Gesellschaft eine große Veränderung, eigentlich eine andere Daseinsform, eine Veränderung, vergleichbar mit der Transformation vom Mittelalter in die Moderne. 

"Meine Vorstellung ist, ein anderes Weltverhältnis zu entwickeln, um damit in eine andere Art von Beziehung zu den Menschen und zur Natur zu kommen."
Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie

F&L: Das scheint ein weiter Weg zu sein. Wie kommen wir dahin? 

Hartmut Rosa: Ich habe keine Vision einer großen Revolution, weil ich nicht glaube, dass mit irgendeiner Reform alle Probleme gelöst werden. Aber ich glaube, dass in allem, was wir tun, es so etwas wie kleine "Risse" gibt, die die Möglichkeit von Resonanzbeziehungen aufscheinen lassen. Mein Lieblingssatz in diesem Kontext stammt von Leonhard Cohen aus dem Lied "Anthem": "There is a crack, a crack in everything. That‘s how the light gets in". 

Wenn ich zum Beispiel in einem Gespräch nicht immer nur das sage, was ich sowieso sage, sondern auch mal zuhöre, dann käme man gemeinsam im Dialog auf eine neue Idee. Oder ich spreche mit einem Studenten und nehme ihn nicht nur als Hindernis wahr, bis ich meinen Aufsatz schreiben kann, sondern ich sehe da plötzlich einen Menschen, mit dem ich in Beziehung treten kann. Oder ich laufe durch eine Landschaft und sehe plötzlich den Raureif, der mich fasziniert. 

Wir haben im Alltag viele echte kleine Risse, und meine Hoffnung ist, wenn wir die größer machen, mit den Menschen ins Gespräch kommen, mit dem Studierenden, vielleicht mit den Obdachlosen, vielleicht mit der Journalistin oder mit den Kollegen und Kolleginnen, dann finden wir auch wieder Ansatzpunkte und Hebel, Resonanz in unsere Praktiken einzubauen, so dass aus den kleinen Rissen große Fenster werden. Resonanz als mein Gegenmodell bedeutet gleichzeitig, sich verletzbar zu machen. Ich öffne mich für etwas Fremdes, für ein Anderes, das ich nicht völlig kontrollieren kann. Das ist der entscheidende Punkt bei Resonanz. 

Das Problem ist, dass unser Lebensstil dem ständig zuwiderläuft. Wenn ich es beispielsweise rechtzeitig zum Flughafen schaffen will, kann ich mich nicht auf ein Gespräch oder eine Begegnung einlassen. Ich darf mit nichts und niemanden in Resonanz treten. Ich muss dem Studenten sagen, jetzt nicht, dem Bettler sagen, jetzt nicht, der schönen Musik sagen, jetzt nicht, und vor dem Raureif die Augen verschließen, sonst verpasse ich das Flugzeug. Eigentlich sind wir immer auf dem Weg zum Flugzeug. 

"Das Problem ist, dass unser Lebensstil dem ständig zuwiderläuft. Ich darf mit nichts und niemanden in Resonanz treten." 
Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie

F&L: Wie gehen Sie selbst mit diesen Phänomenen der Beschleunigung um? 

Hartmut Rosa: Wahrscheinlich stimmt es, dass man sich als Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin den Themen zuwendet, bei denen man selbst Probleme hat (lacht). Ich finde es absurd, wenn Leute es nicht verstehen, dass ich selbst gehetzt bin, obwohl ich seit über 20 Jahren über Beschleunigung schreibe. Natürlich kenne ich sämtliche Beschleunigungszwänge und fühle mich sehr häufig gehetzt. 

Trotz aller Schwierigkeiten würde ich aber sagen, dass es mir gelingt, meine persönlichen Resonanzachsen trotzdem offen zu halten. Manchmal schaffe ich es sogar zu sagen, dass ich nicht das Gutachten und die E-Mail schreibe, sondern einfach das schreibe, was mich interessiert. Diese Fenster gibt es auch in der Lehre. Ich liebe die Lehre mit Studierenden, insbesondere mag ich die Begegnung mit Erstsemestern, um sich dann wirklich zu öffnen für Ideen und Gedanken, die ich noch nicht hatte. Außerdem ist mir Musikhören ganz wichtig. Ich glaube, man muss lernen, zu Anforderungen von außen Nein zu sagen, auch wenn da eine tolle Konferenz oder interessante Einladung winkt. Eine gewisse Sturheit hilft unter diesen Bedingungen.