Ein vom Krieg zerstörtes Gebäude ist bei Nacht zu sehen mit wenigen beleichteten Fenstern.
picture alliance / ZUMAPRESS.com | Yevhen Titov

Ukraine-Krieg
Politische Einordnung von zwei Jahren Ukraine-Krieg

Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse blickt zurück auf zwei Jahre Ukraine-Krieg und zehn Jahre Krim-Annexion. Sie fordert wissenschaftliche Analysen.

Von Gwendolyn Sasse 23.02.2024

Am 24. Februar 2024 jährt sich der Beginn der vollumfänglichen Invasion Russlands in die Ukraine zum zweiten Mal. Insgesamt dauert Russlands Krieg gegen die Ukraine nun schon zehn Jahre: Er begann mit der Annexion der Krim 2014, setzte sich im Krieg im Donbas fort und kulminierte 2022 in Russlands Angriff auf die gesamte Ukraine. 

Der Begriff "Krieg" wird erst seit Februar 2022 konsequent im internationalen Sprachgebrauch verwendet. Die Tatsache, dass die militärische Besetzung und Annexion der Krim nicht sofort so bezeichnet wurden, ist ein Zeichen der buchstäblichen Sprachlosigkeit angesichts der Durchsetzung imperialer Interessen ohne Rücksicht auf das Völkerrecht, zeugt aber auch von einer unterschwelligen Akzeptanz eines vermeintlichen historischen Anspruchs Russlands auf die Krim. Dieser zieht sich durch die russische Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst und wurde über Jahrhunderte auch im Westen unkritisch konsumiert und verinnerlicht.

"Der Begriff 'Krieg' wird erst seit Februar 2022 konsequent im internationalen Sprachgebrauch verwendet."
Gwendolyn Sasse ist wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) 

2022 war vom Schock über das neue Ausmaß dieses Kriegs, von der Widerstandskraft der Ukrainerinnen und Ukrainer und der Fehlkalkulation Moskaus, Kyjiw schnell einnehmen zu können, geprägt. Im Herbst 2022 gelang den ukrainischen Truppen eine erfolgreiche Gegenoffensive, mit der sie Gebiete in der Region um Charkiw zurückeroberten. Eine weitere ukrainische Gegenoffensive war für 2023 angekündigt und – wie wir im Rückblick wissen – mit unrealistisch hohen Erwartungen in und außerhalb der Ukraine verbunden. Ihr Ziel war unter anderem die Rückeroberung von Territorien im Süden, was nur teilweise gelang, und die Durchbrechung des derzeitigen, von Russland kontrollierten Landkorridors zur Krim. Letzteres zielte sowohl auf die Unterbrechung von wichtigen Versorgungslinien der russischen Truppen ab als auch auf eine Positionierung, die die Krim mit Hilfe westlicher Waffensysteme stärker unter Druck setzen sollte. Diese Ziele wurden verfehlt, auch durch die politische Entscheidung westliche Waffensysteme (zum Beispiel Taurus) nicht bereitzustellen beziehungsweise die versprochene Munitionsproduktion in Europa nicht zeitnah aufzubauen.

Die zweite größere Gegenoffensive ist nicht zu einem Wendepunkt geworden, aber sie hat die Kriegsdynamik aufgefächert: Im Schwarzen Meer und auf beziehungsweise in der Nähe der Krim hat die Ukraine im Drohnenkrieg und mithilfe westlicher Waffensysteme durchaus den Druck auf russische Truppen erhöhen können. Auf diese Weise hat die Ukraine über das Schwarze Meer auch ohne Getreideabkommen mit Russland Exportrouten offengehalten und in einem symbolträchtigen Angriff sogar das Stabsgebäude der Schwarzmeerflotte in Sewastopol getroffen. 

Dieser Dynamik steht im Osten der Ukraine ein Stellungs- und Abnutzungskrieg entgegen, der mit hohen Verlusten für beide Seiten verbunden ist und sich 2024 fortsetzen wird. Russland kann hierbei derzeit auf der Grundlage seiner Kriegswirtschaft, des größeren Rekrutierungspotenzials und zunehmender politischer Differenzen in Europa und in den USA stärker auf den Faktor Zeit setzen. 

Die Zukunft der Ukraine im Spiegel der Weltpolitik 

Das Jahr 2024 bringt zahlreiche Herausforderungen für die Ukraine – darunter die erneute Intensität der russischen Luftangriffe auf ukrainische Städte, die Aussicht auf einen langwierigen Zermürbungskrieg an der Ostfront, die Blockade der Ukraine-Hilfe im US-Senat noch bevor der Präsidentschaftswahlkampf ernsthaft beginnt und die damit verbundene Möglichkeit einer Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus und die russischen Präsidentschaftswahlen im März, bei denen Putin seine Entschlossenheit gegenüber der Ukraine unter Beweis stellen will. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass die Politik nach Kyjiw zurückkehrt beziehungsweise wieder zum Vorschein kommt. 

"Das Jahr 2024 bringt zahlreiche Herausforderungen für die Ukraine."
Gwendolyn Sasse, Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung, Humboldt-Universität zu Berlin 

Ende 2023 wurde international über offene Meinungsverschiedenheiten zwischen Präsident Selenskyj und Oberbefehlshaber Saluschnyj spekuliert. Laut Umfragedaten, die Ende 2023 vom Kiewer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS) in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten erhoben wurden, stimmten 19 Prozent (gegenüber fünf Prozent im Oktober 2022) der Aussage zu, dass die Ukraine in zehn Jahren ein Land mit zerstörter Wirtschaft und Massenauswanderung sein wird, aber nach wie vor sieht eine große Mehrheit von 73 Prozent (88 Prozent im Oktober 2022) die Ukraine in der Zukunft als ein wohlhabendes Land in der EU. 

Im Dezember 2023 entschied die EU, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu eröffnen. Auch wenn die Antworten eher Hoffnungen oder Pflichtgefühl spiegeln mögen als tatsächliche Erwartungen, signalisieren die Ergebnisse eindeutig den anhaltenden Konsens über die politische Ausrichtung der Ukraine. Die Antworten auf eine weitere Frage ergaben, dass der Anteil derer, die glauben, dass sich die Dinge in die falsche Richtung entwickeln, von 16 Prozent im Mai 2022 auf 32 Prozent im Dezember 2023 gestiegen war. 

"Im Dezember 2023 entschied die EU, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu eröffnen."
Gwendolyn Sasse

Ein lang andauernder Krieg fordert seinen Preis von der Gesellschaft, daher ist die eigentliche Überraschung, dass etwa 70 Prozent immer noch Optimismus zum Ausdruck bringen. Der Blick "von unten" liefert auch ein wichtiges Korrektiv zu den Spekulationen über das Verhältnis von Selenskyj und Saluschnyj: Im Dezember 2023 waren nur acht Prozent der Meinung, dass es sehr ernste Meinungsverschiedenheiten oder Missverständnisse zwischen den beiden gebe, 35 Prozent waren der Meinung, dass es gewisse, jedoch nicht schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten gebe, 39 Prozent sahen keinen Konflikt (und 18 Prozent konnten oder wollten die Frage nicht beantworten). 

Diese Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, die Stimmung in der Gesellschaft im Krieg kontinuierlich zu analysieren. Die Daten drücken die gesellschaftliche Erwartung aus, dass Selenskyj und Saluschnyj zusammenarbeiten. Spekulationen über politische Differenzen in Kyijw werden darüber hinaus sofort von Russlands Propaganda amplifiziert und von Selenskyjs innenpolitischen Rivalen, vor allem von seinem Vorgänger Petro Poroschenko, der in Meinungsumfragen weit zurückliegt, genutzt.

Hintergrundinfo: Zwei Jahre Krieg in der Ukraine

Am 24. Februar jährt sich der großflächige Überfall Russlands auf die Ukraine zum zweiten Mal. Zehntausende Menschen sind ihm bereits zum Opfer gefallen. Schon am ersten Kriegstag trafen laut "Tagesspiegel" Geschosse auch die berühmte Universität der Stadt Charkiw – das Gebäude der Fakultät für Physik und Technologie. 

Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge sind seit Kriegsbeginn rund 6,5 Millionen Menschen aus der Ukraine ins Ausland geflohen. Weitere etwa 3,7 Millionen wurden innerhalb des Landes gewaltsam vertrieben. Nach jüngsten UNHCR-Erhebungen gehen 65 Prozent der ins Ausland Geflohenen davon aus, dass sie eines Tages in die Ukraine zurückkehren. Etwa ein Zehntel hat keinerlei Hoffnung darauf. Der Krieg in der Ukraine hat bis heute bereits mehrere Milliarden Euro gekostet. Ein Ende ist weiter nicht in Sicht.

Weitere vielschichtige Informationen finden Sie in unserem:
Themen-Schwerpunkt "Ukraine-Krieg"

Tipp: Eine digitale Ausstellung gibt anhand des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine kurze und verständliche Einblicke in Rechtsfragen im Zusammenhang mit Krieg. Entwickelt wurde das Projekt von Dr. Anne Dienelt und Studierenden der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg.

Der Wert wissenschaftlicher Analysen 

Selenskyj führt weiterhin eindeutig die Liste der vertrauenswürdigen Politiker an (Saluschnyj hat noch keine politischen Ambitionen angemeldet und fehlt in den Listen der meisten Umfragen). Wird das Vertrauen in verschiedene Institutionen und Personen gemessen, setzen sich die bekannten Muster aus der Zeit vor der Invasion fort: Die Armee und insbesondere Saluschnyj erreichen in verschiedenen Umfragen Werte um oder über 90 Prozent, dicht gefolgt von selbstorganisierten zivilen Gruppierungen und dem Präsidenten (derzeit etwa 60 Prozent). 

Differenziert man die Frage nach den Aufgaben, die dem Präsidenten anvertraut werden, so gibt es in der öffentlichen Wahrnehmung momentan schlicht keine Alternative zu Selenskyj. Beim Blick in die Zukunft gibt es in den Köpfen der Menschen eine klare Aufgabenteilung: Selenskyj wird für seine künftige Rolle beim Wiederaufbau, bei der Vorbereitung des EU-Beitritts und für die Bewahrung der ukrainischen Demokratie wertgeschätzt, während Saluschnyj mit einem militärischen Sieg assoziiert wird. Die Erwartungen an die beiden sind hoch, aber auch komplementär – zumindest solange sie sich selbst so aufstellen. 

Insgesamt gibt es also Grund zur Hoffnung, dass zumindest die innenpolitischen Herausforderungen 2024 bewältigt werden können. Der militärische Test wird darin bestehen, ob es der Ukraine gelingen kann, die derzeitigen Frontlinien zu verteidigen und weitere Angriffe im Schwarzen Meer durchzuführen. Wahlen in den USA und in Europa instrumentalisieren die Unterstützung für die Ukraine, sollten aber den Blick auf die Bereitschaft Russlands zu verhandeln nicht verklären und den Krieg nicht aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängen. 

"Die Dynamiken und Konsequenzen von Krieg empirisch zu erfassen, zu kommunizieren und zu archivieren gehört zu den Aufgaben der Wissenschaft." 
Gwendolyn Sasse 

Die Dynamiken und Konsequenzen von Krieg empirisch zu erfassen, zu kommunizieren und zu archivieren gehört zu den Aufgaben der Wissenschaft. Forschungszugänge und forschungsethische Fragen werden im Kriegskontext komplexer, aber Forschung ist möglich und notwendig und funktioniert insbesondere auf der Grundlage von wissenschaftlichen Netzwerken in und außerhalb der Ukraine, die es auch mit Blick auf die Herausforderungen des Wiederaufbaus zu stärken gilt.