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Zukunft der Hochschullehre
"Im Idealfall entwickelt eine Lehrperson ihre Lehre beständig weiter."

Gabi Reinmann, Professorin für "Lehren und Lernen an Hochschulen", untersucht zukunftsfähige Formate. Sie nennt innere und äußere Einflussfaktoren.

Von Gabi Reinmann 09.02.2024

Hochschullehre ist auf allen Ebenen in Bewegung, der Antrieb zur Veränderung kommt von innen und außen. Welche Lehr- und Prüfungsformate sind zukunftsfähig? Wie sollte die Lehre in Zukunft gestaltet werden? Fragen dieser Art wiederholen sich – meist dann, wenn der Lehralltag aus dem Tritt gerät. Es sind die massiven sichtbaren Störungen wie zum Beispiel eine Pandemie oder ein multitalentierter Chatbot, welche die Hochschulöffentlichkeit und Anschlusssysteme nach der Zukunft der Hochschullehre fragen lassen: Was sollten wir ändern? 

Genau genommen sind Lehren und Lernen an Hochschulen stets im Änderungsmodus. Keine Lehrveranstaltung ist wie die andere. Im Idealfall entwickelt eine Lehrperson ihre Lehre beständig weiter, reflektiert, wie sich das entworfene Lehrangebot realisieren lässt, was Studierende damit machen und daraus lernen und welchen Anteil die eigenen didaktischen Entscheidungen daran haben. Empirisch mag das nicht immer der Fall sein – es gibt lernresistente Lehrpersonen; normativ aber sind genau das die Ziele und Potenziale des Lehrens. 

Auch Curricula von Studiengängen werden immer wieder angepasst – allein schon deshalb, weil Hochschullehre auf Forschung bezogen ist: Ein akademisches Studium führt in eine Fachwissenschaft ein, in welcher Forschung das Wissen beständig verändert. Es wäre fatal, würde das an Studiengängen vorübergehen. Solche Veränderungen im Lehrhandeln und im Curriculum sind wenig öffentlichkeitswirksam und verlaufen für Außenstehende, meist auch für Studierende, weitgehend unbemerkt. Grund und Richtung dieser Veränderungen hängen mit Erfahrung, Expertise und wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn zusammen. 

Daneben werden immer häufiger ökonomische, technische oder kulturelle Prozesse zum Anlass genommen, Veränderung von Lehr- und Prüfungsformaten einzufordern. Als Richtungsgeber fungiert die Zukunft. Woher aber wissen wir, wie die Zukunft aussehen wird? Womöglich machen wir uns dazu noch zu wenige Gedanken. Stattdessen dominieren zwei Denkmuster den Umgang mit der Frage nach zukunftsfähigem Lehren und Prüfen. 

Zwei Denkmuster 

Denkmuster 1: Es werden "Shifts" postuliert – als Fortschritt hin zum Besseren, zum Beispiel der Shift vom Lehren zum Lernen, von der Vorlesung zum Projekt, von der Fremd- zur Selbststeuerung. Das Muster dahinter: Man identifiziert einen Zustand oder Sachverhalt, schält ihn aus seinem Kontext, konnotiert ihn negativ, bestimmt das Gegenteil und gibt damit eine Richtung vor, die in eine bessere Zukunft führt.

Es scheint kaum jemanden zu stören, dass das regelmäßig mit diversen Ungereimtheiten verbunden ist. So bilden Lehren und Lernen kein Kontinuum, sondern sind aufeinander bezogen: Lehren dient dem Lernen, will Wissen und Können fördern. Zuhören und Projektarbeit schließen einander nicht aus: Verschiedene Lernformen und Lehrformate haben unterschiedliche Ziele, werden im Idealfall kombiniert. Fremdsteuerung muss nicht übergriffig, sondern kann zielführend sein. Selbststeuerung ist nicht immer förderlich, sondern – zum falschen Zeitpunkt – auch mal überfordernd: Didaktische Prinzipien sind in der Regel nicht per se schlecht oder gut, sondern wollen passend ausgewählt, verantwortungsvoll gestaltet und kompetent umgesetzt sein. 

"Lehren dient dem Lernen, will Wissen und Können fördern."
Gabi Reinmann, Professorin für “Lehren und Lernen an der Hochschule”

Simple Shift-Slogans mögen oberflächlich betrachtet Aufbruchstimmung signalisieren, halten aber didaktischen Analysen im Hinblick auf ihre Sinnhaftigkeit selten stand. Von daher sollten wir aufhören, weitere, scheinbar unvereinbare Dualismen zu produzieren, die Handlungsoptionen eher einengen denn erweitern. Lehren ist eine komplexe Gestaltungsaufgabe; didaktisches Wissen und Können, Pluralismus in Formaten und Methoden und eine forschende Haltung dürften fruchtbarer sein, um Hochschullehre für eine unsichere Zukunft zu rüsten. 

Denkmuster 2: Es werden Kompetenzrahmen und -listen mit "Future Skills" bestimmt – über alle Fächer hinweg: zum Beispiel Digital Literacy, Digital Ethics, Kreativität, Urteilsfähigkeit, Innovationskompetenz, Veränderungskompetenz, Kooperationsfähigkeit und vieles mehr. Das Muster dahinter: Man legt fest, welche Kompetenzen die Gesellschaft künftig brauchen wird, bestimmt Prüfungsformate, mit denen sich diese erfassen lassen, und leitet daraus Forderungen für die Art des Lehrens ab. Das Verfahren klingt plausibel, hat aber Mängel: Die gewählten Begriffe sind nicht selten austauschbar; ihr Abstraktionsniveau schwankt, und die Kriterien für Auswahl und Sortierung lassen sich oft nicht nachvollziehen. 

Viele der heute postulierten Future Skills galten schon vor Jahrzehnten als erstrebenswert, andere thematisieren, was für ein akademisches Studium selbstverständlich sein sollte. Es steht außer Frage, dass individuelles Lehrhandeln wie auch curriculare Entwicklungen nach Zielen verlangen. Auf den ersten Blick mögen Future Skills-Maximen diesbezüglich eine klare Richtung geben und zupackend wirken. Didaktisch betrachtet entpuppen sie sich oft als inhaltsleer und mechanistisch in ihren Folgerungen. Die künftige Hochschullehre dürfte mehr davon haben, wenn wir den wichtigen Diskurs darüber, was Menschen in Zukunft wissen und können sollten, auch disziplinspezifisch führen: proaktiv aus den Fachwissenschaften heraus und mit Studierenden, um deren Zukunft es hier geht. 

Einflüsse von außen 

Hochschullehre ist auf allen Ebenen in Bewegung; der Antrieb zur Veränderung kommt von innen und außen. Das Außen hat uns derzeit mehr im Griff: Anfang 2020 hat eine Pandemie weltweit radikale Veränderungen in eine Richtung erzwungen. Weitgehend unvorbereitet wurden digitale und hybride Lehr- und Prüfungsformate umgesetzt, um bei nächster Gelegenheit zur Präsenzlehre zurückzukehren: eine digitale Zukunft auf Zeit. Ich denke, Lehrpersonen fehlten vor allem Spielräume und eigene Motive, in diesem großen Feldexperiment für die Zukunft dazuzulernen. 

Anfang 2023 haben generative KI-Systeme wie ChatGPT weltweit Gewissheiten über die Rolle des Menschen in Forschung und Lehre erschüttert: Ratlos werden seitdem Curricula und Prüfungen in Frage gestellt angesichts eines Zukunftsnarrativs, das Politik und Wirtschaft als alternativlos darstellen – ein Zwang anderer Art wiederum in eine Richtung: die Vorbereitung auf ein (bestimmtes) KI-Zeitalter ohne Rückkehrmöglichkeit. 

Dass generative KI im Vergleich zur Pandemie die Hochschullehre grundsätzlicher beeinflussen wird, ist auch meine Überzeugung. Utopische und dystopische Szenarien werden kreiert, denen meist gemeinsam ist, dass sie dualistische Züge tragen und reaktiv argumentieren, also bisherige Denkmuster zur Beantwortung der Frage nach der Zukunft der Hochschullehre reproduzieren. Wie kommen wir da heraus? 

"Anstatt zukunftsfähige Lehr- und Prüfungsformate zu suchen, sollten wir herausfinden, welche Zukunft wir haben wollen."

Vielleicht stellen wir einfach nicht die richtigen Fragen. Anstatt zukunftsfähige Lehr- und Prüfungsformate zu suchen, sollten wir herausfinden, welche Zukunft wir haben wollen und wie wir sie selbstbestimmt gestalten können. Das didaktische Design von Lehren und Prüfen ist ein kreativer Akt, der weder pfadabhängig von einer Future Skill zum Lehrformat noch auf der Welle eines Shifts in eine Richtung verläuft. Das darf uns beruhigen, denn die Vielfalt der Fachwissenschaften und Studiengänge lässt sich didaktisch nicht über einen Kamm scheren. Da braucht es weiterhin Mut zur didaktischen Vielfalt anstelle eines starren Repertoires. Diese Einsicht allein aber wird nicht reichen. 

Moralischer Rahmen für die Lehre 

Wollen wir den mächtigen KI-Entwicklungen und -Narrativen ein selbstbestimmtes Handeln entgegensetzen, brauchen wir wohl auch einen veränderten sozialen und moralischen Rahmen für die Lehre in allen Fächern: Lehrpersonen und Studierende müssten sich (besser) kennen, untereinander soziale Beziehungen pflegen und mehr Vertrauen aufbauen. Das klingt trivial, ist es aber nicht, weil es bisherige Gepflogenheiten vor allem in Massenuniversitäten enorm herausfordern würde. 

Neben Kompetenzen wären moralische Werte auszuhandeln und einzuüben und im Diskurs darüber zu bleiben, was uns als Menschen ausmacht. Ein solcher Rahmen könnte uns in der Lehre experimentierfreudiger machen und – vielleicht – vom Wettrüsten gegen Betrug in Prüfungen ebenso wie vom Wettlauf mit der KI-Entwicklung befreien, den wir ohnehin nicht werden gewinnen können. 

Das HUL hat einen "Lehrpfad" (als Selbstlernmaterial) entwickelt. Er stellt die Handlungslogik bei der Gestaltung von Lehrangeboten vor: https://t1p.de/qm9vx