Klimaforschung
Klimaziel von 1,5 Grad ist "nicht plausibel"
Das Klimaziel, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu begrenzen, ist nach Ansicht von Hamburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aktuell unrealistisch. "Eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius ist derzeit nicht plausibel", heißt es in einer Mitteilung der Universität Hamburg zum "Hamburg Climate Futures Outlook 2023", der neuen Studie des Exzellenzclusters "Klima, Klimawandel und Gesellschaft" (Cliccs).
Für die am Mittwoch vorgestellte Studie haben rund 60 Forschende der Sozial- und Naturwissenschaften in einem interdisziplinären Team zehn gesellschaftliche, klimarelevante Faktoren untersucht. Dazu zählen die UN-Klimapolitik, die Gesetzgebung zum Klimaschutz, Proteste, soziale Bewegungen, transnationale Initiativen, Klagen vor Gericht, Konsumverhalten, der Abzug von Investitionen aus der fossilen Wirtschaft, die Wissensproduktion und die Medien.
Reduktion von Kohlendioxid-Emmissionen zu langsam
Es sei einiges in Bewegung gekommen, heißt es. Doch vor allem das Verhalten von Konsumenten und Unternehmen bremse den weltweit dringend notwendigen Klimaschutz. "Die notwendige umfassende Dekarbonisierung verläuft einfach zu langsam", erklärte die Leiterin von Cliccs, Professorin Anita Engels. Dekarbonisierung bedeutet die Reduktion von Kohlendioxid-Emissionen.
Auch die Medien verhalten sich nach Ansicht der Autorinnen und Autoren ambivalent: Mal unterstützten sie das Ziel einer CO2-neutralen Gesellschaft, mal unterminierten sie es. Engels sieht dabei den professionellen Journalismus eher positiv. Anders als in den USA verzichteten Medien in Europa zunehmend auf ein "Ausbalancieren" zwischen der Mehrheitsmeinung der Wissenschaft und "randständigen" Stimmen. "Das ist ein sehr wichtiger Punkt", sagte die Soziologin am Mittwoch. In sozialen Medien fänden sich dagegen viele Fake-News, vor allem Autoren aus dem rechten Spektrum verbreiteten unzutreffende Berichte.
Einfluss der Kipppunkte auf die globale Durchschnittstemperatur
Die physikalischen Prozesse, die als Kipppunkte diskutiert werden, wie der Verlust des arktischen Meereises, das Schmelzen der Eisschilde und die regionalen Klimaveränderungen, halten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwar für gravierend. "Auf die globale mittlere Temperatur bis 2050 haben sie aber kaum Einfluss", hieß es. "Es gibt für das Schmelzen des arktischen Meereises keinen Kipppunkt", sagte der Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie, Professor Jochem Marotzke. Eis bilde sich neu, wenn es kälter werde.
Durch das Schmelzen des Eises entstehe zwar eine dunklere Oberfläche, die sich theoretisch im Sonnenlicht mehr erwärme. Ein Blick aus dem All auf die Erde zeige aber: Wolken schirmten das Meer oft ab. Der Rückkopplungseffekt auf das Klima sei viel geringer als angenommen. "Die globale Auswirkung (auf das Klima) ist sehr gering", sagte Marotzke.
Eher seien das Tauen des Permafrosts, die geschwächte Umwälzpumpe im Atlantik und das Regenwaldsterben im Amazonas von Bedeutung, wenn auch nur moderat. "Die gefürchteten Kipppunkte könnten die Rahmenbedingungen für das Leben auf der Erde drastisch verändern", so Marotzke. Für das Erreichen der Pariser Klimaziele seien sie aber zunächst "ohne Belang".
Rolle der Gesellschaft für den Klimawandel
Entscheidend für eine Eindämmung der Erderwärmung ist nach Auffassung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der soziale Wandel. Der reiche bislang nicht aus. "Wir sind nicht mal in Ansätzen auf dem richtigen Pfad", sagte Engels. Die staatlichen Investitionen, um die Folgen der Corona-Krise und des russischen Einmarsches in die Ukraine abzumildern, hätten die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen noch verfestigt. "Verfehlen wir die Klimaziele, wird es umso wichtiger, sich an die Folgen anzupassen", betonte die Soziologin. Dennoch müssten die Bemühungen um Klimaschutz weitergehen. Jedes halbe Grad globaler Klimaerwärmung sei wahrnehmbar, warnte Marotzke.
Von "Kipppunkten" hält der Physiker aber nichts. "Dieser Begriff ist so aufgeweicht, dass er als wissenschaftlicher Begriff nicht mehr taugt", sagte Marotzke, der auch Mitautor der jüngsten Berichte des Weltklimarats (IPCC) war. Die Entwicklung der globalen Temperatur hänge sowohl von den Emissionen als auch von der Reaktion des Klimas darauf ab.
dpa/cpy