Unbeschriftete Seite mit getrockneter Blume in aufgeschlagenem Poesiealbum
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Poesie
Mehr als schöne Gedichte

Wie sehen moderne Gedichte aus? Womit befasst sich die Lyrik in der heutigen Zeit? Ein Streiflicht zum Welttag der Poesie.

Von Friederike Invernizzi 21.03.2023

Die Kraft und die Vielfalt der Poesie sollen heute, am 21. März, anlässlich des "Welttags der Poesie" gefeiert werden. Poesie – spontan assoziieren wir mit diesem Begriff heute romantische Verse, natürlich gereimt, die gerahmt über Wohnzimmertischen hängen, für Behaglichkeit sorgen oder in geblümten Einbänden im Bücherregal schlummern, bereit, bei tristem Wetter das Gemüt aufzuhellen. Doch Poesie ist ein Wort mit einer langen und sehr bedeutsamen Begriffsgeschichte. Es stammt ursprünglich aus dem Altgriechischen und bedeutet "Erschaffung". Nach Aristotelischer Poetik umfasst die Poesie Texte verschiedener Gattungen, die unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Seit dem 19. Jahrhundert wird von literarischen Gattungen gesprochen. Mit Poesie wurden in diesem System kurze, meist auf Mensch und Alltag bezogene schöne Gedichte bezeichnet, die handschriftlich ihren Platz in Poesiealben fanden. Lyrik und das Gedicht wurden schließlich in der Literaturwissenschaft der Begriff, der heute in der modernen Welt mit digitalen und sonstigen Ausdrucksformen gleichbedeutend mit Poesie geworden ist. Moderne Gedichte gelten überwiegend als kunstvolle Texte, für die sich eine Minderheit, eine fast verschworene Gemeinschaft, interessiert. Die meisten Leserinnen und Leser winken, meist fast lachend, ab: "Gedichte? Kann ich nichts mit anfangen". In den Deutschstunden der Oberstufe sind Gedichtinterpretationen nach wie vor gefürchtet, werden als anstrengend und langweilig empfunden. "Das braucht man doch gar nicht im Leben." Also tatsächlich Zeitverschwendung?

Die Welt in Worte fassen

Was ist und sollte ein heutiges Gedicht eigentlich sein, damit es gelesen und auch verstanden wird? Wo ist sein Platz, seine Bedeutung in der aktuell von Krisen und Zukunftsängsten geschüttelten Welt? "Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!" rief Günter Eich 1951 seinen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen in dem Gedicht "Sand im Getriebe" zu. Also unbequem sein, das unangenehme aussprechen, was keiner hören will, unterdrücktes und verdrängtes ansprechen und in lyrische Sprache verwandeln? "Alle Fühler ausgestreckt, tastet (der Schriftsteller F.I.) nach der Gestalt der Welt, nach den Zügen des Menschen in dieser Zeit. Wie wird gefühlt und was gedacht und wie gehandelt? Welche sind die Leidenschaften, die Verkümmerungen, die Hoffnungen ...?", formulierte die Lyrikerin Ingeborg Bachmann 1959 in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden.

Geht es also um die Suche nach Ausdruck, teils in großer Radikalität praktiziert, um die sich alles dreht? Sprache in Gedichten als Werkzeug des eigentlich Unaussprechlichen, das sich stets im Ringen um Form und Inhalt in den Räumen der Sprache alle Möglichkeiten abringt? Sind die Autorinnen und Autoren in fragilen Welten unterwegs, stets auf hoher See bei der Suche nach dem richtigen Ausdruck, den Elementen und den Stürmen des eigenen sprachlichen Anspruchs ausgesetzt? Vielleicht als unglücklicher Dichter oder eine von der Gesellschaft abseits lebende Dichterin, der oder die sich noch nicht einmal sicher ist, wo es herkommt, das Drängen, das ständige Gefühl, dem nicht genügen können, was geschrieben werden soll? Eine der markantesten Stimmen aus den USA, die Lyrikerin Sylvia Plath, formulierte es so:

"Du fragst, warum mein Leben Schreiben ist
Ob es mich unterhält?
Die Mühe lohnt?
Vor allem aber, macht es sich bezahlt?
Was wäre sonst der Grund??
Ich schreib allein
Weil eine Stimme in mir ist,
Die will nicht schweigen"

Gottfried Benn sprach als dichtender Arzt gar von einem Beobachtungsapparat, einem Mikroskop, das prüft und färbt und nach pathologischen Stellen sucht.

Sind Gedichte also eine wichtige Stimme, die den Menschen in all seiner Zerbrechlichkeit und mit seinen tiefen Sehnsüchten Ausdruck verleiht, in seiner Unfähigkeit, in der modernen und lauten Welt zu Frieden und Einklang mit der Natur zu finden, seinem gleichzeitigem Willen, sich dem Guten zuzuwenden und niemals aufzuhören, nach Sinn zu suchen?

Gedichte sind oft einfacher als gedacht

Doch was ist mit der Unverständlichkeit, die modernen Gedichten oft vorgeworfen wird? Können artifizielle und hochkomplexe sprachliche Gebilde über eine wichtige, für alle lesbare Bedeutung haben? Es mag paradox klingen, doch Gedichte sind oft einfacher als gedacht. Viele begnügen sich mit wenigen Worten, kommen fast nackt daher, aber auch die opulenten seitenfüllenden sind teils feinsinnig und dabei zugleich einfacher als man meint. Selbst Paul Celan, für viele der Inbegriff des deutschen hermetischen und unverständlichen Dichters, kann viel konkreter als befürchtet gelesen werden. Vielleicht ist eben Mühe und genaueres Hinsehen nötig, um sich mit den Bedeutungen und Facetten von Gedichten zu beschäftigen und sie zu verstehen. Man muss sich Zeit nehmen und sich vom schnellen Rhythmus der digitalen und schnelllebigen Bilderwelten abgrenzen.

Und wenn man schließlich soweit ist und sie versteht, was sollen Gedichte? Sollen sie das Leben verbessern? Sich einsetzen für politische Ideen, "literature engagée" sein oder besser doch den Elfenbeinturm bewohnen, um den besseren Überblick zu haben? Benn schrieb dazu: "Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes: sie verändert. (…) Sie hebt die Zeit und die Geschichte auf, ihre Wirkung geht auf die Gene, die Erbmasse, die Substanz, ein langer innerer Weg. Das Wesen der Dichtung ist unendliche Zurückhaltung, zertrümmernd ihr Kern, aber schmal ihre Peripherie, sie berührt nicht viel, das aber glühend".

Einen wunderbaren Einstieg, um sich mit Gedichten anzufreunden, bietet der Film "Paterson" von Jim Jarmusch, der vor sieben Jahren in die Kinos kam: das Portrait eines kauzigen wortkargen Busfahrers in einer amerikanischen Kleinstadt, der ständig Gedichte in ein kleines Notizbuch schreibt. Als Vorlage dienten die Gedichte von William Carlos Williams, ein im vorigen Jahrhundert lebender Arzt und Lyriker aus den USA, der unter anderem schrieb:

"I have eaten
the plums
that were in
the icebox

and which
you were probably
saving
for breakfast

Forgive me
they were delicious
so sweet
and so cold"