Illustration eines menschlichen Gehirns mit einem Baustellengerüst und Figuren, die es stützen und betrachten
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Erinnern und Vergessen
Was beim Erinnern in unserem Körper passiert

Lässt sich die Informationsverarbeitung im Gehirn beeinflussen? Was passiert mit Erinnerungen, wenn es altert? Ein Einblick in unser Gedächtnis.

Von Martin Korte 13.07.2021

Wir sind in vielerlei Hinsicht als Individuen geprägt durch unser Gedächtnis, und die Welt interpretieren wir im Lichte dessen, was wir bereits erlebt haben. Wir sehen dabei die Welt nicht, wie sie ist, wir nehmen sie auch nicht wahr, wie sie scheint, wir erleben sie so, wie Verschaltungen in unserem Gehirn dies vorgeben, und diese Verschaltungen sind in einem starken Maße durch Erfahrung – was wiederum Gedächtnisprozesse sind –  geprägt. Wir sehen, riechen, hören und schmecken, wir schütteln Hände, unterhalten uns mit Arbeitskollegen, Familienangehörigen oder Freunden, reagieren mit Gefühlen und beurteilen das Erlebte. Kurzum: Wir machen ständig neue Erfahrungen und lernen Neues hinzu. Dabei halten wir es für selbstverständlich, dass wir uns in dieser Welt sicher bewegen, ohne von ihrer Informationsflut überwältigt zu werden. Dass dies unserem Gehirn gelingt, verdanken wir einer Meisterleistung der Natur: unserem Gedächtnis, ebenso wie Filterprozessen, die wir häufig Vergessen nennen.

"Gehirne sind vor allem darauf programmiert, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen."

Vergessen und Gedächtnis sind hier zwei Seiten einer Medaille, Geschwister im Geiste und in den Gehirnmechanismen an Synapsen, die sowohl Speichervorgänge als auch Vorgänge des Vergessens vermitteln. Dabei suchen wir häufig nach Tipps und Tricks gegen "das Vergessen", ganz pauschal, jedes Mittel scheint recht zu sein und mancher scheint hier die Hoffnung zu hegen, es gäbe vielleicht die ein oder andere Gedächtnispille, die das mühsame Lernen umgeht und Vergessen verhindert. Das ist dann etwas viel verlangt von unseren Gehirnen – denn die sind gar nicht dafür gebaut, "Alles" zu erinnern, und lassen sich auch durch gedächtnisverstärkende Pillen nicht dazu überreden. Gehirne sind vor allem darauf programmiert, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und ständig zu filtern, so dass nur ein Bruchteil unserer Erlebnisse gespeichert wird, und dies vor allem danach, ob wir sie aktuell für bedeutsam halten, damit etwas assoziieren können und diese Erlebnisse einen emotionalen Gehalt haben.

Schereschewskis Gedächtnis

Man muss sich hier nicht nur hypothetisch vorstellen, was passieren würde, wenn wir uns "Alles" merken könnten, denn es gibt und gab lebende Beispiele von Menschen, die sich nahezu alles merken konnten. Aber hatte dies einen Vorteil für diese Menschen? Dies kann man mit einem klaren Nein beantworten, wie folgendes Beispiel zeigt: 1920 kam Herr Schereschewski in die Sprechstunde von Alexander Luria, einem bis heute berühmten Neurologen. Herr Schereschewski konnte schon in der ersten Sitzung eine einmal präsentierte Liste mit 150 Zahlen in beliebiger Reihenfolge wiederholen, mehr hatte Luria wegen eigener Übermüdung nicht testen können. Schereschewski konnte riesige Zahlenmengen wiederholen, indem er in seinem Gedächtnis einfach das Tafelbild abrief, Zahl für Zahl, oder er imaginierte Gegenstände entlang eines Weges. In den dreißig Jahren, in denen Luria seinen Patienten Schereschewski beobachtete, stieß er nicht einmal an die Grenze seines Gedächtnisses. Um einmal Abgespeichertes wieder zu vergessen, musste er den gleichen Aufwand betreiben, den wir "Normal-Mnemoniker" benötigen, um uns an etwas zu erinnern. So versuchte er etwa mit einem virtuellen Schwamm, zum Teil sogar mit Erfolg, Tafelanschriften vor seinem inneren Auge zu löschen.

Trotz dieses traumhaft guten Gedächtnisses hatte Schereschewski Probleme, Grundgedanken zu abstrakten Begriffen zusammenzufassen oder komplexe Zusammenhänge zu erkennen. Es fiel ihm schwer, die Bedeutung eines Geschehens schnell zu erfassen. Auch einer vorgelesenen Geschichte zu folgen, bereitete ihm Probleme, da er dabei einer Explosion von Assoziationen ausgesetzt war.

Vergessen lernen

Um sich effektiv in unserer Welt zurechtzufinden, bedarf es nicht nur eines guten Gedächtnisses, sondern auch des klugen Vergessens, Filterns und Aussortierens von Fakten und Ereignissen, gerade in Zeiten, in denen digitale Medien unseren Alltag mit mit Informationen überladenen Aufmerksamkeitsfressern beliebig fragmentieren. Aus Informationen sinnvolles Wissen zu machen, bedeutet, eine Auswahl zu treffen, statt beliebig viele Informationen zu speichern. Was wir erleben, muss man in vertretbarer Zeit analysieren können, und dies gelingt nur, indem man sich auf einige wenige Dinge konzentriert und Details weglässt. Ohne eine selektive Sinnesverarbeitung, ohne eine selektive Aufmerksamkeit, aber auch ohne ein selektives Gedächtnis, das wir oft als schlecht bezeichnen, ist niemand imstande, aus der Flut von Informationen einen Sinn zu erschließen. Vergessen ist keine Fehlentwicklung unseres Gedächtnisses, sondern ein integraler Bestandteil, sonst würden wir vergleichbar mit Pompeji von einem Informations-Aschemüll begraben werden.

"Vergessen ist keine Fehlentwicklung unseres Gedächtnisses."

Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass wir den Kampf gegen das Vergessen verloren geben sollten, nur weil etwas schwer zu erlernen ist. Aber es erinnert daran, dass die Selektivität des Gedächtnisses auch seinen evolutiven Sinn hat. Und im Alltag ist es wichtig, immer wieder Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. So frustrierend das Vergessen ist, es ist eine essentielle Eigenschaft unseres Gedächtnisses, und wir müssen diese Art des Auswählens wieder neu erlernen im sogenannten Informationszeitalter, und da helfen in der Tat keine Pillen.

Mit "5L+G" gegen Alzheimer

Allerdings verhält es sich im älterwerdenden Gehirn etwas anders, denn hier gibt es ein hohes Risiko für Krankheiten, wie die Alzheimer Demenz, die vor allem das Gedächtnis mit seinen Speicherorten im Gehirn angreift. Und hier gilt es aktiv vorzubeugen, denn die "Pille gegen Alzheimer" lässt weiter auf sich warten, und auch das gerade in den USA zugelassene auf Antiköperbasis wirkende Medikament "Aducadumab" ist umstritten in seiner Wirksamkeit. Möglicherweise ist die eigene Vorsorge, die man betreiben kann, immer noch effektiver, und epidemiologische Studien zeigen, dass man die Alzheimer Krankheit wohl sieben Jahre im Mittel nach hinten verschieben kann, wenn man folgende einfache Regeln berücksichtigt, die ich mal als "5L+G-Regel" bezeichnen möchte:

Laufen: Bewegung und Sport stehen nicht zufällig hier an erster Stelle. Bewegung, eingebaut in den Lebens- und Arbeitstag ist der wichtigste Schlüssel, um zum einen möglichst lange jung im Kopf zu bleiben und auch um neurodegenerative Erkrankungen möglichst lange aufzuhalten. Bewegung fördert die Durchblutung des Gehirns und führt nicht nur an Muskelzellen, sondern auch im Gehirn zu einer Freisetzung von Wachstumsfaktoren, die als Dünger wirken und die Überlebensfähigkeit von Neuronen erhöhen.

Lernen: ein Leben lang Lernen, nicht nur um die Neugierde zu befriedigen, sondern auch um Reserven und Kompensationsmöglichkeiten anzulegen gegen den gesetzmäßig ablaufenden Abbau im Gehirn. Aber auch um Lösungen schneller finden zu können, zumal der, der viel weiß, auch leichter assoziativ Neues mit Bekanntem verbinden kann.

Lieben: Freunde und ein soziales Umfeld, ja sogar karitative Tätigkeiten halten jung, ungewollte Einsamkeit ist dagegen ein chronischer Stressfaktor für das Gehirn und verkürzt dauerhaft die Lebensfähigkeit vieler Neurone. Nichts ist anstrengender, aber auch belohnender für das Gehirn, als in Gemeinschaft etwas zu tun. Und alles was Neurone anstrengt, hält sie auch länger jung. Durch einen regen Freundeskreis wird auch die Resilienz gegen Niederlagen erhöht, da man sich in Gemeinschaft eher aufrafft, was Neues zu probieren, oder sich stützen kann.

Lachen: Man lacht nur, wenn man auch aufmerksam, konzentriert und achtsam zugehört hat – das reduziert den schädlichen Dauerstress für das Gehirn und trainiert vor allem den Stirnlappen, der im Alter überproportional altert.

Lachs: Seefische enthalten Jod und die schützenden Omega-3/6-Fettsäuren und sollten deshalb regelmäßig auf dem Speiseplan stehen. Am besten für das Gehirn (aber auch andere Organe) ist insgesamt eine mediterrane Ernährung: bunt mit Gemüse und Obst, wenig Kohlenhydraten, mehr Fisch als Fleisch, selbst zubereitet und für die meisten zum Glück, mit (etwas) Alkohol.

+G: Immer wieder mit Gewohnheiten brechen und neue Routinen etablieren hält das Gehirn ebenfalls länger jung. Das strengt besonders den Stirnlappen an, denn wir müssen uns, um alte Routinen neuronal zu überschreiben, besonders konzentrieren, und das trainiert das Arbeitsgedächtnis, welches durch Alterungsprozesse im Gehirn besonders gefährdet ist. Nimmt es ab, ist man leichter ablenkbar. Und auch hier gilt, je mehr Neurone sich anstrengen müssen, umso länger sind sie lebensfähig und umso besser bleiben sie vernetzt.

"All das hält alternde Gehirne wacher, lernfähiger und fitter."

All das schützt nicht vor Schicksal und ungünstiger genetischer Veranlagung, aber es reduziert nachweislich Risiken und hält alternde Gehirne auch jenseits von Krankheiten wacher, lernfähiger und fitter.

Soziale Altersvorsorge

Neben den oben genannten gibt es noch psychologisch-soziale Faktoren, die gesellschaftlich und individuell viel zu wenig betont werden, denn das Älterwerden braucht auch eine Stimme:  in unseren Köpfen, damit wir langfristig eine Altersvorsorge betreiben, aber noch viel mehr gesellschaftlich und politisch, damit Altersheime eine anregende und fordernde Umgebung schaffen – oder am Arbeitsplatz, damit ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre wichtige Rolle noch optimal spielen können. Auch braucht das Alter Vertrauen – in andere und in sich selbst, denn das Gehirn reguliert seine Leistungsfähigkeit auch an den Erwartungen, die es an sich stellt! Ganz im Sinne dieser weitsichtigen, vor vielen Jahren getätigten Tagebucheintragung von Max Frisch: "Du sollst Dir kein Bildnis machen: In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage."