Ein mit dem Wort "Truth" beschrifteter Stein
mauritius images/Walter Bibikow

Serie: 25 Jahre Forschung & Lehre
Was mit der Wahrheit noch verloren geht

Die Suche nach der Wahrheit ist der Kern der Wissenschaft – oder nicht? Unser Autor fragt sich, welche Bedeutung die Wahrheit in der Gesellschaft hat.

Von Volker Gerhardt 24.12.2019

Wie sich die Zeiten ändern! Solange es die Postmoderne noch gab, gehörte es zur philosophischen Pflichtübung, die Wahrheit gegenüber jenen zu verteidigen, die es für eine ausgemachte Wahrheit hielten, dass es die Wahrheit gar nicht gibt.

Kaum war nach dem 11. September 2001 nicht nur die Koketterie mit der fehlenden religiösen Musikalität, sondern auch der Reiz der postmodernen Beliebigkeit verflogen, gewann der nunmehr "global" legitimierte Relativismus an Boden: Jeder Religion, jeder Kultur und allen, die zu geschichtlichen Opfern geworden waren, sollte ihre jeweilige Wahrheit zugestanden werden. So galt in der Publizistik der "Nullerjahre" jeder, der an der Wahrheit im Grundsatz festhielt, als rückständig.

Nach der Bankenkrise und den sich mehrenden Anzeichen globaler Verwerfung gab es Anzeichen einer Stimmungsänderung auch gegenüber der Wahrheit. Die Erosion der weltpolitischen Einheit, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks unausweichlich erschien, machte offenbar empfänglich für die Diagnose, dass der Wert der Wahrheit wächst, gesetzt, man will die Einheit erhalten und in ihr die Stimme der Wissenschaft nicht verloren geben. Mit der zunehmend erfahrenen Unsicherheit der Lebensumstände wuchs auch das Verlangen, sich wenigstens im eigenen Dasein auf ein gegebenes Wort verlassen zu können.

Funktionsverlust von Öffentlichkeit gefährdet Wissenschaft

Heute muss man an diese Irrungen und Wirrungen des Zeitgeistes erinnern, denn mit dem erklärten und tagtäglich vollzogenen Wahrheitsverzicht eines amerikanischen Präsidenten hat sich die Stimmung schlagartig verändert. Offenbar musste erst ein Mächtiger kommen, der die Wissenschaft pauschal der Lüge bezichtigte, um die Wissenschaftler daran zu erinnern, woran ihnen selbst gelegen sein muss, wenn sie ernst genommen werden wollen.

Dasselbe akademische Gremium, das es 2004 mit ironischer Distanz ertragen hatte, dass ein Philosoph für die Unverzichtbarkeit der Wahrheit plädierte, überbot sich dreizehn Jahre später mit der vielstimmigen Versicherung, dass es der Wissenschaft in allen ihren Bemühungen um die Wahrheit gehe.

Das war ein veritabler Lernprozess. Doch er dürfte noch nicht abgeschlossen sein. 2018 ist die Debatte an einem neuen Punkt angelangt. Denn inzwischen hat sich der Verdacht erhärtet, dass die demokratischen Entscheidungen in zahlreichen Ländern auf willkürlich verzerrten Wahrheiten und in offenbar nicht wenigen Fällen auf bewusst verbreiteten Lügen beruhen.

Zu alledem liegt seit kurzem eine Hintergründe, Einflussgrößen und mögliche Folgen erörternde Studie vor, die sich der Frage widmet, ob die Wahrheit überhaupt noch zu retten ist. Sie ist nicht auf die derzeit genutzten digitalen Techniken beschränkt, sondern sucht die erwartbaren Effekte der automatisierten Intelligenz einzubeziehen. Danach scheint die Wahrheit, die den Menschen verlässliche Informationen übermittelt, kaum noch zu retten zu sein. Und sollte das nicht gelingen, sei auch die Demokratie als politische Lebensform verloren. Um das zu verhindern, bleibe selbst für das Land, in dem dazu die besten technischen und recht­lichen Voraussetzungen bestehen, nur noch eine kurze Frist.

Eine solche Diagnose bedeutet nicht nur den Ruin eines politischen Systems, das die Unbelehrbaren dieser Welt ohnehin gerne hinter sich lassen möchten. Ein Scheitern der Demokratie beruhte auf dem Funktionsverlust der Öffentlichkeit – ausgerechnet im information age. Wenn aber das Vertrauen in die Öffentlichkeit nicht mehr gegeben ist, hätte auch die Wissenschaft verloren, deren Leistungen in allen ihren Disziplinen auf "Kritik und Öffentlichkeit", wie Kant sagt, gegründet sind. Vom Menschen, der in seinem Bewusstsein sowohl in seiner privaten wie auch in seiner politischen Existenz auf Öffentlichkeit angewiesen ist, ganz zu schweigen.

Die Harvard-Studie setzt auf politische, technische und rechtliche Vorkehrungen, die den Missbrauch der Wahrheit erschweren sollen. Die dürfen aber nicht auf die USA beschränkt bleiben, sondern haben weltweit wirksam zu sein, wenn sie auch nur alle Amerikaner schützen sollen. Dabei darf die Prämisse einer Wertschätzung der Wahrheit nicht wieder verloren gehen. Denn Irreführung und Lüge haben nur Erfolg, solange sie vortäuschen, die Wahrheit zu sein.