rauchende Glasflasche mit Thermometer und pH-Meter
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Forschungswerkzeuge
Beschleuniger und Veränderer

Welchen Einfluss haben Forschungswerkzeuge auf die Wissenschaft? Können sie Karrieren und Forschungskooperationen antreiben? Ein Interview.

Von Friederike Invernizzi 07.10.2021

Forschung & Lehre: Welchen Einfluss haben Forschungswerkzeuge und -instrumente auf wissenschaftliche Karrieren? Sind sie wichtige "Beschleuniger"?

Friedrich Steinle: Seit der frühen Neuzeit ist die Entwicklung der Wissenschaften und ihrer Werkzeuge sehr eng gekoppelt, insbesondere in den Naturwissenschaften. Es gibt Geräte, die den wissenschaftlichen Erkenntnisprozessmassiv verändert und dafür gesorgt haben, dass neue Fragen verfolgt wurden. Dies hat umgekehrt zur Entwicklung der Instrumente selbst beigetragen. Natürlich haben Forschungswerkzeuge beziehungsweise eine gute technische Ausstattung, die zur Verfügung stehen, einen großen Einfluss auf wissenschaftliche Karrieren und sind wichtige "Beschleuniger". Durch bessere Instrumente bekomme ich schneller bessere Ergebnisse als wenn ich sie nicht habe. Damit sind auch Karrieren bisweilen stark von Forschungswerkzeugen abhängig.

"Karrieren sind bisweilen stark von Forschungswerkzeugen abhängig."

Mir standen damals als Physikdiplomand nur alte Messgeräte zur Verfügung, die zwar nicht ungenau waren, bei denen aber die Messungen sehr zeitaufwändig waren. Wenn wir damals schnellere Instrumente zur Verfügung gehabt hätten, die es auf dem Markt zwar gab, aber für die Gruppe nicht erschwinglich waren, hätte ich wahrscheinlich statt zwei Stunden pro Versuch jeweils nur fünf Minuten gebraucht. Damit hätte ich natürlich ganz andere Ergebnisse produziert. Der Zugang zu neueren Forschungswerkzeugen hätte alternative Fragestellungen ermöglicht und die dazugehörigen Ergebnisse zutage gebracht. Ich weiß aber schlussendlich nicht, ob das karriererelevant war. Vielleicht wäre mit einem besseren Zugang zu anderen Instrumenten Spektakuläreres herausgekommen und hätte meine Laufbahn verändert. Später als Historiker hatte ich das Glück, während meiner Habilitation ein Stipendium in Paris zu bekommen. Ich arbeitete über ein halbes Jahr dort ungestört in einem Archiv. Ähnliches erlebte ich während meiner Forschungstätigkeit in einem Max-Planck-Institut, wo mir eine sehr  gut ausgestattete Bibliothek zur Verfügung stand. 

Portraitfoto von Prof. Dr. Friedrich Steinle
Friedrich Steinle ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Technischen Universität Berlin. privat

F&L: Wie sieht die Situation an den Universitäten aus, was die Forschungswerkzeuge betrifft?

Friedrich Steinle: In den Naturwissenschaften können Universitäten häufig nicht die Ausstattung vorweisen wie reine Forschungsinstitute. Sie haben leider nicht die gleichen Möglichkeiten, die Geräte zu beschaffen wie diese. In solchen Fällen ist die Zusammenarbeit zwischen Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstitutionen für die Karrierewege von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wichtig. Das Ziel sollte sein, die Forschungswerkzeuge gemeinsam zu nutzen. Das wird meines Erachtens häufig ganz gut umgesetzt.

F&L: Geht aber bei der modernen technischen Ausstattung nicht Kreativität verloren? Könnte nicht die nötige Improvisation bei alter Ausstattung innovative Wirkung haben?

Friedrich Steinle: Bei mangelnder Ausstattung und einfachen Geräten ist man gezwungen zu improvisieren. Man stellt sich Fragen, die man sich sonst nicht stellen müsste. Eins ist ja klar: Neue Ideen bekommt man nicht automatisch mit neuen Forschungswerkzeugen. Allerdings hat man als Forscher einen anderen Raum, um Fragen stellen zu können, wenn man weiß, dass es eine Chance gibt, diesen nachzugehen. In einer Mangelsituation, wie wir sie oft an den Universitäten haben, mögen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gute Ideen haben, die man auch in die Forschungsarbeiten hineinschreiben kann. Wenn man aber in direkter Konkurrenz mit einer Forschungseinrichtung steht, die diese Ideen in einer Experimentalreihe viel schneller prüfen kann, dann hätte man diese Werkzeuge gerne auch.

"Bei mangelnder Ausstattung und einfachen Geräten ist man gezwungen zu improvisieren."

F&L: Wie sieht die Situation bei den Geisteswissenschaften aus?

Friedrich Steinle: In den Geisteswissenschaften ist es ähnlich. Dort geht es noch mehr als in den Naturwissenschaften darum, gute Fragen zu stellen. Originalität und Kreativität sind hier besonders wichtig. Für die weitere Recherche muss man aber eine gute Bibliothek im Hintergrund haben bzw. einen guten Bibliotheksservice, der zum Beispiel Quellen aus anderen Jahrhunderten zur Verfügung stellen kann. Da sind unsere Universitäten manchmal nicht gut ausgestattet. Hier bringt allerdings die Digitalisierung große Veränderungen mit sich. Wir bekommen damit zum Beispiel viele Quellen mit einem Klick auf dem Bildschirm zur Verfügung – das wäre vor 30 Jahren undenkbar gewesen.

F&L: Welche Folgen haben die zunehmende Technisierung und Digitalisierung der Forschungswerkzeuge?

Friedrich Steinle: Wenn man zunächst bei dem Beispiel wissenschaftliche Bibliotheken bleibt: Hier findet eine fundamentale Verschiebung des Selbstverständnisses statt. Die Digitalisierung bringt eine Beschleunigung mit sich, verbunden mit einer qualitativen Veränderung.

F&L: Durch die Entwicklung der Forschungswerkzeuge verändert sich Forschung. Wie könnte man das beschreiben?

Friedrich Steinle: Es rücken Fragen in den Bereich des Möglichen, die vorher nicht denkbar waren beziehungsweise die zwar denkbar waren, aber deren Umsetzung komplett jenseits des Möglichen lag. Nehmen Sie das Beispiel der Chemischen Analyse: Sie können heute eine Chemische Analyse mit dem Massenspektrometer innerhalb weniger Minuten durchführen mit einem hochgenauen Resultat. Im 19. Jahrhundert hat dies sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Früher mussten große Materialproben genommen werden, heute reichen Bruchteile davon. Hier spielt der Zeitaufwand eine enorme Rolle. Zudem ist die Fehlerquote viel geringer und  durch die Präzision der Geräte ist es möglich, genauere und andere Fragen zu stellen. Eine ähnliche Dynamik war ja bei den Gensequenzierungen zu beobachten. Sie betrifft aber auch die Geschichtswissenschaften. Das klassische Arbeiten mit wenigen, überschaubaren Quellenbeständen, die man sich im Archiv anschaut, verändert sich, wenn man auf einmal tausend Quellen auf den Bildschirm bekommen kann. Die muss man dann anders lesen, auch unter Zuhilfenahme neuer Forschungswerkzeuge wie zum Beispiel der Computational History: Die Frage "Wie sehen die Publikationen zur Gentechnik über die letzten 30 Jahre aus?" konnte man zwar schon früher stellen, aber nicht operational umsetzen. Das geht heute, weil man mit riesigen Daten- und Quellenmengen umgehen kann.

"Ich bekomme keinen Doktortitel und keine Professur, wenn ich nicht an moderne Forschungswerkzeuge angepasste Fragen bearbeite."

F&L: Was passiert eigentlich mit den Fragen, die ich gestellt hätte, wenn ich weniger Forschungswerkzeuge zur Verfügung gehabt hätte? Sind die Fragen, die ich früher mit weniger technischen Mitteln gestellt hätte, uninteressant geworden?

Friedrich Steinle: Diese Fragen sind ja nicht uninteressant, rücken aber durch die neuen technischen Möglichkeiten in den Hintergrund. Ich bekomme keinen Doktortitel und keine Professur, wenn ich nicht an moderne Forschungswerkzeuge angepasste Fragen bearbeite. Da gibt es ein echtes Problem. Auf die Physik bezogen: Wir rennen immer den Fragen der höheren Energie nach und bauen immer größere Teilchenbeschleuniger, aber der Bereich der mittleren Energien, wo wir die Instrumente schon längst da haben, der geht unter, obwohl es da noch jede Menge interessante Fragen gibt. Das ist ein flächendeckendes Symptom unserer Forschungslandschaft und illustriert die wechselseitige Dynamik von Wissenserwerb und Werkzeug.

F&L: Auf welche Weise beeinflussen die neuen Möglichkeiten, die mit der technologischen Entwicklung von Forschungswerkzeugen einhergehen, außerdem den Nachwuchs, zum Beispiel was die Kreativität betrifft?

Friedrich Steinle: Vermutlich werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durch die gewachsenen technischen Möglichkeiten in ihren Problemstellungen stärker gelenkt. Wenn Sie in einem Labor arbeiten, das wenig technische Möglichkeiten bietet, und da interessante Arbeiten produzieren, aber gleichzeitig in Konkurrenz stehen mit hochmodernen und aktuellen apparativen Entwicklungen, bei denen dann auch spektakuläre Ergebnisse herauskommen, dann betrifft das Gelenktsein vor allem die Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler. Wer etabliert ist und sich nicht weiter profilieren muss, der ist davon weniger stark betroffen. Dies wird verschärft durch den wachsenden Wettbewerbsdruck, dem alle Wissenschaften mittlerweile ausgesetzt sind. Da bleibt immer weniger Raum für die Universitäten und die Lehrstühle für Fragen, die hochspannend sind, die Kreativität erfordern, aber nicht mehr im Fokus der "werkzeuggetriebenen" Forschung sind. Ein Beispiel könnte perspektivisch Digital History sein, ein Forschungszweig, der sehr intensiv betrieben wird. Doch sollen auch weiterhin die "klassischen" Fragen in der Geschichte gestellt werden können, die ja nicht weniger wichtig geworden sind. Man sollte Strukturen in der Forschungslandschaft schaffen, in der auch unabhängig von tagesaktuellen modischen Entwicklungen geforscht werden kann, ohne dafür abgestraft zu werden. Das wird meines Erachtens schwerer. Hier ist unsere Wettbewerbsideologie schädlich.

F&L: Werden also heute exzellente Forscherinnen und Forscher nicht mehr durch die Möglichkeit angelockt, frei forschen zu können, sondern eher durch eine hochwertige technische Ausstattung?

Friedrich Steinle: Das muss ja kein Gegensatz sein, aber aus dieser Dynamik hervorragender Werkzeuge ist schwer herauszukommen. Der Wettbewerbsgedanke in der Wissenschaft ist heutzutage sehr oft mit Forschungswerkzeugen verbunden. Es gibt aber auch Orte völliger Forschungsfreiheit. Mir fällt dazu das Forschungslabor bei IBM in Rüsch­li­kon­/Schweiz ein, wo die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler völlig frei und ohne Vorgaben mit einer zur Verfügung gestellten Ausstattung forschen. Es gibt auch in den Geisteswissenschaften Initiativen, unter anderem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die damit werben, dass die Forscher einfach Zeit bekommen. Pause vom Tagesgeschäft, um ungestört über Forschungsfragen nachdenken zu können. Zeit ist vermutlich mittlerweile eines der höchsten Güter, die wir zu schätzen wissen.

"Zeit ist vermutlich mittlerweile eines der höchsten Güter."

F&L: Gibt es einen wachsenden Zwang zur Kooperation in der Wissenschaft, um Forschungswerkzeuge nutzen zu können?

Friedrich Steinle: Vor allem bei großen Forschungswerkzeugen ist Kooperation unausweichlich, zum Beispiel bei Hochenergiebeschleunigern wie dem CERN, die sehr international aufgestellt sind, oder Projekten in der Astrophysik, etwa den Observatorien alten und neuen Stils (ESO, ALMA, IceCube und so weiter). Das sind Projekte, die nur in größeren Kooperationen denkbar sind. Große Forschungsgeräte zwingen schon immer zur Kooperation: Ein schönes Beispiel sind die Windkanäle der 1920er Jahre. Heu­te wirkt sich dies enorm auf die Internationalisierung aus. Das wird dann häu­fig dadurch kompliziert, dass die Projekte meist nicht unabhängig von politischen, industriellen oder auch militärischen Interessen sind.