mit rot-weißem Sperrband abgesperrte Parkbank während der Corona-Pandemie
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Citizen Science
Tausende Bürger teilen Pandemie-Erfahrungen im "Coronarchiv"

Im "Coronarchiv" sammeln Historiker Ausschnitte aus dem Corona-Alltag der Bürger. Inzwischen ist eine beachtliche Datenbank entstanden.

17.09.2020

Ein Forschungsteam der Universitäten Hamburg, Bochum und Gießen hat im März ein digitales Archiv eingerichtet, in dem Bürgerinnen und Bürger ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie teilen können. Das "Coronarchiv" enthält inzwischen rund 4.500 Einreichungen, teilte Professor Thorsten Logge, der mit seinem Team das Archiv betreibt, gegenüber "Forschung & Lehre" mit. Die Menge an Beiträgen habe den Historiker überrascht, auch seine Kollegen – Professor Christian Bunnenberg, Benjamin Roers und Nils Steffen – hätten mit einem Bruchteil davon gerechnet.

Rund 3.100 aller Fundstücke sind für Interessierte bereits öffentlich einsehbar, weitere seien in Bearbeitung. Einige Dutzend Beiträge sollen jedoch unveröffentlicht bleiben, da sie teils sensible Inhalte enthielten, sagte Logge. Für die Forschenden seien hingegen alle Beiträge zugänglich. "In den letzten Wochen gingen die Einreichungen relativ stark zurück, in der Hochphase waren wir zeitweise im dreistelligen Bereich pro Tag", so Logge.

Die Bürgerinnen und Bürger reichten auch weiterhin Objekte ein, meist handele es sich um Bilder oder Texte. Möglich sind generell auch Video- oder Audiodateien. Ziel des Projekts ist es, den zeitlichen Prozess der Pandemieerfahrung im Alltag der Menschen einzufangen und zu dokumentieren. "Das ist uns auch ganz gut gelungen", meint Logge, nicht zuletzt wegen des frühen Sammelbeginns.

Die Art der eingereichten Fundstücke habe sich dabei im Laufe der Zeit verändert, meint der Historiker. "Wir beginnen erst mit der Sortierung des eingegangenen Materials, können aber schon jetzt sagen, dass sich die Beiträge in Phasen gliedern lassen."  Den Anfang prägten demnach vor allem Objekte, die das Erstaunen der Bürgerinnen und Bürger über Veränderungen ihres Alltags wiederspiegelten, beispielsweise ungewohnt stille und leere öffentliche Plätze, leere Regale in Supermärkten oder solidarische Aktionen wie Balkonkonzerte und Klatschen für medizinisches Personal. Zunehmend würden nun auch Rückblicke eingereicht, die die vergangenen Monate reflektierten.

Erfahrungen der Bürger werden vielfältiger

Einige Teilnehmende dokumentierten und teilten ihr Leben in der Corona-Zeit fortwährend über das Archiv, andere reichten Einzelbeiträge ein. Für den Herbst rechnet Logge wieder mit einer stärkeren Beteilung der Bürgerinnen und Bürger an dem Projekt, parallel zur Entwicklung des Infektionsgeschehens. Aufgrund der regional unterschiedlichen Corona-Maßnahmen erwarten die Forschenden künftig zunehmend differenziertere Corona-Erlebnisse der Bürgerinnen und Bürger.

An dem ursprünglichen Nebenprojekt arbeiten inzwischen vier Wissenschaftler und zehn ehrenamtliche oder studentische Mitarbeiter. Sie versehen die Beiträge mit Schlagworten und sortieren sie vor. Um eine weitere Aufbereitung und Erforschung der Objekte zu ermöglichen, schreibt das Team derzeit weitere Förderanträge. "Hier geht es uns auch um eine internationale Vernetzung, insbesondere mit unseren Partnern in Luxembourg und den USA, die ebenfalls Erfahrungen in der Corona-Zeit sammeln", erläuterte Logge. Auch Kooperationen mit Forschungspartnern in Brasilien und Chile seien geplant. Mit mehreren Museen und Stiftungen in Deutschland bestehen bereits Kooperationen.

Inhaltlich arbeitet das Forscherteam derzeit daran, die Beiträge auch langfristig zu archivieren und die Sammlung auf bislang wenig repräsentierte Akteure in der Pandemie auszuweiten. Im Winter und im kommenden Jahr wollen die Projektteilnehmer die Inhalte weiter thematisch sortieren und kuratierte Online-Ausstellungen generieren, sofern sie dafür Fördermittel erhalten.

"Grundsätzlich steht das Material des 'Coronarchivs' für jedwede wissenschaftliche Beschäftigung zur Verfügung", betonte Logge. Forschende seien eingeladen, es für eigene Fragestellungen zu nutzen. Darüber hinaus erhoffen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, über das Archiv mit facheigenen und fachfremden Kollegen ins Gespräch zu kommen, um zu klären, wie der Austausch zwischen Hochschule und Gesellschaft gelingen kann. "Was ist und wie funktioniert Crowdsourcing und Bürgerpartizipation in den Geisteswissenschaften? Welche technischen, rechtlichen oder ethischen Probleme erwachsen daraus? Was ist ein Archiv? Was unterscheidet Geschichte von Vergangenheit?" Für Projektleiter Logge sind noch viele Fragen offen.

ckr