Eine Passantin geht an einem Straßenverkaufsstand in Rio de Janeiro vorbei, der Handtücher mit den Gesichtern der Präsidentschaftskandidaten der Republik Brasilien verkauft.
picture alliance/dpa / Fernando Souza

Präsidentschaftswahl
Brasilien hat die Wahl

Am Sonntag wird im größten Land Südamerikas gewählt. Wo stehen die brasilianischen Hochschulen im Ringen um demokratische Standards?

Von Jochen Hellmann 01.10.2022

Wie in vielen Ländern Lateinamerikas hat auch in Brasilien die Polarisierung zwischen den politischen Lagern zugenommen. Im Oktober 2022 finden, in zwei Urnengängen, die Wahlen zur Neubesetzung der Parlamente und der Exekutive auf allen Ebenen sowie die Präsidentschaftswahlen statt. Bei der Wahl des neuen Präsidenten wird es zu einem Duell zwischen dem derzeitigen Amtsträger Jair Bolsonaro und dem Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, allgemein Lula genannt, von der Arbeiterpartei kommen. Beide Kandidaten verfügen über einen harten Anhängerkern, beide benötigen aber auch Stimmen von Wählerinnen und Wählern, die nicht auf eines der beiden Lager festgelegt sind. Die öffentliche Stimmung ist dabei aufgeheizt: Parteigänger Bolsonaros sind davon überzeugt, dass bei einem Wahlsieg Lulas der Kommunismus eingeführt und die Säulen der Zivilisation geschleift werden. Die um Lula gescharten Bolsonaro-Gegner zweifeln dagegen nicht, dass eine Wiederwahl Bolsonaros den umgehenden Untergang der Demokratie und die Außerkraftsetzung aller Menschenrechte nach sich ziehen würde.

Hochschullehrer gegen Polarisierung

Die Hochschulen im Land haben der Polarisierung bislang widerstanden: Sie sind weiterhin Horte der Wissenschaftsfreiheit und diskutieren auf zahlreichen Kongressen, Konferenzen und Foren über die Entwicklung der Demokratie in Brasilien. Dies erzeugt großes öffentliches Echo: Professorinnen und Professoren der Universität São Paulo starteten im Juli eine Petition, die darauf dringt, dass die Errungenschaften der Demokratie in Brasilien nicht in Frage gestellt werden. Die Hochschullehrenden trafen damit einen Nerv: In kürzester Zeit hatten mehr als eine Million Brasilianerinnen und Brasilianer die Petition unterzeichnet.

"Der Widerspruch der Hochschulen gegen Polarisierung ist ein Zeichen, dass die brasilianische Demokratie widerstandsfähig ist."

Der Widerspruch der Hochschulen gegen Polarisierung und Missachtung demokratischer Standards sind dabei Zeichen, dass die brasilianische Demokratie widerstandsfähiger ist, als im Ausland gelegentlich angenommen wird. Die Jahre unter der Lula-Regierung von 2002 bis 2016, aber auch die jüngste Vergangenheit unter Bolsonaro seit 2019 zeigen, dass trotz aller Polemik und der durch soziale Medien befeuerten Demagogie, Brasilien ein nicht ohne Weiteres aus der demokratischen Bahn zu bringendes Gesamtgefüge darstellt. Gerade die Jahre unter dem derzeitigen Präsidenten mit seinen vielfältigen Verfehlungen – von der Unterschätzung der Covid-Pandemie über die Beschädigung des weltweiten Ansehens seines Landes bis hin zur Gleichgültigkeit gegenüber der Durchsetzung von Umweltstandards – haben wie ein Stresstest gewirkt und die Stabilität des Rechtsstaates und das keineswegs perfekte, aber hinreichende Funktionieren der staatlichen Organe bewiesen.

Die Stabilität des  brasilianischen Staates hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen, die in ihrer Gesamtheit als ein ausbalanciertes System von "Checks and Balances" wirken: Brasilien ist dezentral organisiert, mit erheblichem Einfluss der Verantwortlichen in den Bundesstaaten und Städten. Hier hat die Zentralregierung nur limitierte Einflussmöglichkeiten. Zugleich verfügt Brasilien über vielfältiges ziviles Engagement, eine kritische Presse, die das Regierungshandeln wachsam begleitet, sowie über zwei Parlamentskammern, in denen der gegenwärtige Präsident nur mit Anstrengung gelegentliche Mehrheiten zustande bringt. Als letzte Mauer gibt es eine unabhängige Justiz, die in der Lage ist, der jeweiligen Regierung manchen Strich durch die Rechnung zu machen. Die Kehrseite ist, dass es auch vernünftige Reformen schwer haben, im Geflecht aus Korporationen, Kräften und Interessen das Licht der Welt zu erblicken. Aber die Schwerfälligkeit des Systems ist zugleich ein Aspekt seiner Stabilität.

Politische Einflussnahme an den Hochschulen

Für einen detaillierten Blick auf die Lage der Universitäten ist es zunächst sinnvoll, sich einige Grundlagen des brasilianischen Hochschulsystems zu vergegenwärtigen: Die 8,5 Millionen Studierenden verteilen sich auf rund 2.600 Hochschuleinrichtungen. 2.300 dieser Einrichtungen sind privat geführt und mehrheitlich Lehr-Institute ohne eigene Forschung. Einige jedoch entsprechen europäischen universitären Standards. Bei den 300 öffentlichen Hochschulen ist der Anteil solcher Institutionen und damit potenzieller Partner für wissenschaftliche Kooperationen mit deutschen Hochschulen hingegen hoch. Von ihnen sind 69 Institutionen Mitglieder des Bundesnetzes der Universitäten, die alle – in unterschiedlichem Exzellenzgrad – gute Forschung und Lehre betreiben. An diesen "Universidades Federais", also den Bundesuniversitäten, sind rund 1,3 Millionen Studierende eingeschrieben – und nur für diese ist die Zentralregierung in der Hauptstadt Brasília überhaupt zuständig.

Auch wenn es nur ein kleiner Teil des Systems ist, auf den die Zentralregierung Einfluss ausüben kann, handelt es sich doch um einen akademisch relevanten Teil. Der wichtigste Hebel, mit dem Politik auf Wissenschaft einwirken kann, ist dabei das Geld. Und hier ist die Bilanz der letzten Jahre in der Tat besorgniserregend: Sowohl die 69 Bundesuniversitäten als auch die wichtigen, von der Zentralregierung abhängigen Wissenschafts- und Förderagenturen mussten erhebliche Einschränkungen ihrer Budgets verkraften und in der Folge die Zahl ihrer Projekte und Stipendien reduzieren. Fairerweise sollte hinzugefügt werden, dass diese Sparmaßnahmen nicht erst unter Bolsonaro begannen, sondern bereits seit 2015 zu Einschnitten führten. Infolge der Mittelknappheit bei Einstiegsstellen und Stipendien sieht inzwischen vor allem der wissenschaftliche Nachwuchs seine beruflichen Perspektiven schwinden, woraus ein zunehmendes Interesse an akademischer Auslandsmigration resultiert.

Neben den budgetären Einschnitten hat die Regierung in den letzten Jahren wiederholt versucht, in die Hochschulautonomie einzugreifen: So wurde bei neu zu bestellenden Rektoren bzw. Rektorinnen nicht automatisch diejenige Person ernannt, die aus den universitätsinternen Wahlen siegreich hervorgegangen war, sondern oftmals eine als pflegeleichter geltende Person bestellt, auch wenn diese nicht die meisten Stimmen erhalten hatte und in der Folge das neue Amt schon gleich mit angeschlagener Legitimität antreten musste. Der ohnehin geringen Beliebtheit der Bolsonaro-Regierung an den Universitäten hat eine solche Praxis nicht geholfen.

Brasilianische Wissenschaft im Ranking gut platziert

Trotz der genannten Probleme ist festzuhalten, dass die brasilianische Wissenschaft im Hinblick auf die Qualität von Forschung und Lehre weiterhin mit großem Abstand in der Region führend ist: Im Hochschulranking von "Times Higher Education" für Lateinamerika finden sich sieben brasilianische Universitäten unter den Top Ten. Zugleich machten die staatlichen brasilianischen Hochschulen bei der Diversität ihrer Studierenden in den vergangenen Jahren große Fortschritte: Der Anteil der nicht-weißen und sozial nicht privilegierten Studierenden wurde signifikant erhöht, unter anderem durch die Vergabe der Hälfte der Studienplätze an Schulabgänger aus dem öffentlichen Schulsystem sowie eine Reservierung von 25 Prozent der Studienplätze für nicht-weiße Bewerberinnen und Bewerber. Außerdem sind nicht zuletzt die Bundesuniversitäten Orte des demokratischen Diskurses, die sich bisher als resilient gegenüber jedem Versuch der Einschränkung der Freiheit von Forschung und Lehre erwiesen haben.

Wer Ende Oktober den finalen, zweiten Wahlgang gewinnt, kann niemand mit Sicherheit voraussagen. Aktuelle Umfragen deuten auf einen Vorsprung für Lula hin. Wird das Bolsonaro-Lager in diesem Fall die Niederlage demokratisch anerkennen? Das steht dahin; die Emotionalisierung ist auf beiden Seiten groß. Gewiss wäre es keine Überraschung, wenn Unruhe und Zwischenfälle die Tage nach der Wahl begleiten. Aber es spricht viel dafür, dass sich die Fundamente der demokratischen Institutionen in Brasilien am Ende trotz möglicher Erschütterungen als gefestigt erweisen werden.