Flaggen von EU-Staaten
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Hochschulexperte Thomas Jorgensen
"Europawahlen entscheidend für Wissenschafts-Klima in der EU"

Nationalistische Tendenzen in der EU nehmen zu. Wie schätzt ein Experte für Europäische Hochschulpolitik die Folgen für die Wissenschaft ein?

Von Katrin Schmermund 22.05.2019

Prognosen zur anstehenden Europawahl zeigen einen deutlichen Anstieg von EU-skeptischen Parteien. Die informelle "große Koalition" zwischen der christdemokratischen-konservativen (EVP) und den Sozialdemokraten (S&D) könnte nach Prognosen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zum ersten Mal in der Geschichte des Europäischen Parlaments ihre Mehrheit verlieren. Als Sammelfraktion könnten parallel die EU-kritischen Parteien auf 21 Prozent der Sitze kommen. Dafür müssten sich die Fraktionen jedoch in fundamentalen politischen Unterschieden einigen.

Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind in europäische Forschungsprojekte eingebunden, schätzen den grenzübergreifenden Austausch und waren für Forschung oder Studium im EU-Ausland. Internationalität bereichert die Wissenschaft, ist in vielen Bereichen notwendig.

Wie gefährdet ist die Zusammenarbeit, wenn sich die Prognosen für die anstehende Wahl bewahrheiten? Das haben wir Thomas Jorgensen gefragt. Er hat den europäischen Hochschulsektor für die European University Association seit Jahren im Blick.

Rechtsruck: Gefährdung der europäischen Werte

Hochschulexperte Thomas Jorgensen
Dr. Thomas Ekman Jorgensen ist Senior Policy Coordinator bei der European University Association (EUA). privat

"Die Europawahlen entscheiden über das künftige Wissenschaftsklima in der EU", sagt Jorgensen. "Das ist etwas ganz Entscheidendes". In den vergangenen Monaten habe auch er mit Sorge die Gefährdung der europäischen Werte beobachtet. "Die Wissenschaftsfreiheit wird in Ländern wie etwa der Türkei und Ungarn massiv beschnitten", sagt er. "Von einem Parlament, in dem große Teile national ausgerichteter Parteien sitzen, dürfte dagegen immer weniger Gegenwind zu erwarten sein". Schließlich sähen diese es nicht als Aufgabe Europas, sich "in nationale Angelegenheiten einzumischen".

"Open to the world" – einer der Slogans der EU-Forschungspolitik dürfte damit wohl eher nicht vereinbar sein. Und über einzelne Programme hinaus hätte die Wissenschaft für nationalistische Parteien einen vergleichsweise geringen Stellenwert. Im Vordergrund stünden Themen wie Migration und Grenzschutz. Dabei habe die EU-Förderung gerade für Forschende aus wirtschaftlich schwachen EU-Mitgliedstaaten eine besonders große Bedeutung.

Die Kompetenzen der EU in Forschung und Bildung

Forschung und Entwicklung gehören auf EU-Ebene zu den geteilten Kompetenzen. Die Bildungspolitik ist dagegen eine rein nationale Kompetenz. Die EU hat dabei nur eine beratende Funktion. Es gibt jedoch viele Entscheidungen aus anderen Kompetenzbereichen, die den Bildungssektor beeinflussen. Dazu zählen etwa Beschlüsse zum Urheberrecht oder zu staatlichen Förderungen.

Zusammenarbeit im weltweiten Wettbewerb entscheidend

Als Vertreter der Universitäten kritisiert Jorgensen scharf, dass die Wissenschaft eine zu geringe Bedeutung in den Wahlkampagnen der Länder spiele. Alle Politiker wollten "smart solutions", aber betonten zu wenig, dass dies nicht ohne eine ausreichend geförderte Wissenschaft möglich sei.
"Die Investitionen sind zu gering, wenn wir uns anschauen, was Länder wie China oder die USA für Forschung ausgeben", sagte Jorgensen. Das resultiere auch aus einem grundlegenden politischen Problem.

"Die EU Staaten schließen sich zu selten zusammen, um einen gemeinsamen Vorstoß zu finden und ernsthaft zusammenzuarbeiten – nehmen wir die Künstliche Intelligenz: Alle sind sich einig, dass deren Weiterentwicklung eine gemeinsame Herausforderung ist, aber auf gemeinsame Strategien können sich die Mitgliedstaaten nicht einigen."

"Nationalistische Abgeordnete schätzen oft die Zusammenarbeit mit Blick auf die wirtschaftlichen Vorteile des eigenen Landes [...]. Und das ist der Knackpunkt." Thomas Jorgensen

Große Förderprogramme in der Wissenschaft wie 'Horizon Europ' werde ein möglicher Rechtsruck im Europäischen Parlament jedoch nicht grundsätzlich gefährden", glaubt Jorgensen. "Die Zustimmung ist parteiübergreifend sehr groß." Dasselbe gelte für das Austauschprogramm Erasmus oder die ERC-Grants.

Entsprechend ihrer Ausrichtung unterscheide sich jedoch die Intention der Parteien, Programme wie Horizon Europe zu unterstützen. Während EU-freundliche Abgeordnete den Vorteil insbesondere in der Entwicklung der EU und einer Verbesserung des europäischen Zusammenhalts sähen, verfolgten nationalistische Abgeordnete das Prinzip "just retour", wie Jorgensen es nennt. "Sie schätzen oft die Zusammenarbeit mit Blick auf die wirtschaftlichen Vorteile des eigenen Landes eher als den gesamteuropäischen Gewinn. Und das ist der Knackpunkt."

Auch könnte das Wahlergebnis Einfluss auf die Gestaltung der Forschungsthemen für Horizon Europe haben. Geplant sind Forschungsprojekte zu den Schwerpunktthemen Gesundheit, Inklusive und sichere Gesellschaften, Digitales und Industrie, Klima, Energie und Mobilität sowie Nahrungsmittel und natürliche Ressourcen. Über die konkreten Themen entscheiden Kommission und Rat. Das Parlament kann aber Druck ausüben, bestimmte Themen zu fördern und andere wegzulassen.

Die Abstimmung im EU-Parlament über "Horizon Europe"

Mitte April haben die EU-Parlamentarier über zwei Papiere zu "Horizon Europe" abgestimmt. Ab 2021 wird es das laufende Förderprogramm "Horizon 2020" ablösen. Sowohl die Rahmenbedingungen für das Programm als auch die Regelungen für dessen Umsetzung erhielten breite Unterstützung. Dabei forderten die Abgeordneten deutlich mehr Geld für das Programm als von der Europäischen Kommission angesetzt. 120 Milliarden Euro will das Parlament. 94,1 Milliarden Euro standen im Entwurf der Kommission.

Jetzt muss der Rat der Ministerpräsidenten noch in erster Lesung über "Horizon Europe" abstimmen. Das Budget des Programms hängt darüber hinaus noch vom Gesamtbudget der Union ab 2021 ab.