Politische Einflussnahme
Wissenschaft ist kein Lobbyismus
Die Grenzen von legitimer Interessenvertretung und Lobbyismus in einer parlamentarischen Demokratie sind fließend. Anfang 2021 wies die Covid-19-Maskenaffäre erneut auf die tiefen Verflechtungen der bundesdeutschen Politik mit Repräsentanten und Repräsentantinnen von Wirtschaftsunternehmen und Verbänden hin. Insofern war es längst überfällig, dass der Bundestag am 25. März 2021 ein Lobbygesetz verabschiedete, das seit dem 1. März 2022 in Kraft ist.
Das eingeführte Lobbyregister schafft Transparenz im politischen Betrieb und legt offen, welche Interessenvertretungen Einfluss auf Entscheidungsprozesse in Bundestag und Bundesregierung nehmen. Sämtliche Akteure und Organisationen, die aktiv mit Bundestag und Bundesregierung in den Austausch treten, sind angewiesen, sich in das Lobbyregister einzutragen. Tritt eine Organisation oder Einzelperson, die nicht registriert ist oder falsche Angaben gemacht hat, in Eigeninitiative auf Bundestagsabgeordnete oder die ersten vier Leitungsebenen der Exekutive (Ministerinnen und Minister, Staatssekretäre und Staatssekretärinnen, Abteilungs- und Unterabteilungsleitungen) zu, kann der Bundestag empfindliche Strafen (bis zu 50.000 Euro) verhängen. Die Registrierung ist jedoch relativ aufwendig. Dies erschwert gerade kleinen Organisationen und NGOs in Zukunft – so auch die Kritik vom Bundesverband entwicklungspolitischer und humanitärer Nichtregierungsorganisationen (NRO) VENRO – die Wahrnehmung ihres Mandats der Interessenvertretung.
Was fällt unter Interessenvertretung der Wissenschaft?
Eine grundlegende Frage jedoch betrifft den Austausch zwischen Wissenschaft und Politik: Was definiert wissenschaftlich-basierte Politikberatung? Was fällt unter Interessenvertretung der Wissenschaft und somit Lobbyismus? Sicherlich ist es richtig, dass die höheren Führungsebenen der universitären und außeruniversitären Wissenschaft sowie die sie vertretenden Verbünde, etwa die HRK, die großen Wissenschaftsgemeinschaften (Max-Planck, Fraunhofer, Helmholtz, Leibniz) wie auch Forschungsförderorganisationen (DFG und Stiftungen), sich im Lobbyregister eintragen. Als Vertretungen der Wissenschaft ist es ihre Aufgabe, politische, finanzielle und rechtliche Interessen der Wissenschaft – auch im Austausch mit Politik und Exekutive – zu vertreten.
"Problematisch ist, dass das Lobbygesetz bei den Interessenvertretungen der Wissenschaft nicht Halt macht."
Problematisch ist allerdings, dass das Lobbygesetz bei den Interessenvertretungen nicht Halt macht, sondern letztlich jede wissenschaftliche Institution und jeden Wissenschaftler beziehungsweise Wissenschaftlerin, der beziehungsweise die auf Eigeninitiative Kontakt mit Vertretern der Legislative, der Bundesregierung oder der Exekutive (bis einschließlich der Ebene von Unterabteilungsleitungen) aufnimmt, auffordert, sich in das Lobbyregister einzutragen. So heißt es in § 1 (3): "Interessenvertretung ist jede Kontaktaufnahme zum Zweck der unmittelbaren oder mittelbaren Einflussnahme auf den Willensbildungs- oder Entscheidungsprozess der Organe, Mitglieder, Fraktionen oder Gruppen des Deutschen Bundestages oder zum Zweck der unmittelbaren oder mittelbaren Einflussnahme auf den Willensbildungs- oder Entscheidungsprozess der Bundesregierung." Eine Unterscheidung zwischen Interessenvertretung und wissenschaftlich-basierter Politikberatung wird lediglich in Bezug auf von der Bundesregierung in Auftrag gegebene wissenschaftliche Expertengremien gemacht. So heißt es in § 3 (4): "Interessenvertreterinnen oder Interessenvertreter müssen sich bei Interessenvertretungen gegenüber der Bundesregierung nicht eintragen, wenn und soweit sie für die von der Bundesregierung eingerichteten Sachverständigenräte und sonstigen Expertengremien tätig sind."
Der feine Unterschied zwischen Beratung und Lobbyismus
Die Bundestagsverwaltung geht insgesamt von 6.000 bis 8.000 natürlichen und/oder juristischen Personen (Individuen und Organisationen) aus, auf die das Gesetz anzuwenden ist. Bis zum 28. Februar hatten sich 2.400 Organisationen im Lobbyregister eingetragen. Bei den bisherigen Einträgen wird bereits deutlich, dass wissenschaftliche Organisationen Ausreißer im Lobbyregister darstellen. So sind die bislang registrierten wissenschaftlichen Einrichtungen aufgrund ihrer Wirtschaftskraft und ihrer direkten Budgets zur Finanzierung ihrer Interessenvertretung eine zu vernachlässigende Größe. Während die großen Industrieverbände im Schnitt 5 bis 15 Millionen Euro jährlich für Lobbyarbeit aufbringen, kommt die Fraunhofer Gesellschaft als größte, im Lobbyregister registrierte, wissenschaftliche Organisation gerade mal auf 170.000 Euro. Das umgekehrte Verhältnis zeichnet sich bei den zu nennenden "Lobbyisten" ab. So nennen die wissenschaftlichen Organisationen aufgrund des Fachwissens ihrer Mitarbeiter prozentual mit Abstand die meisten. Die Fraunhofer Gesellschaft kommt hier etwa auf 500 "aktive Interessenvertreter" – fünfmal mehr als die nächstgrößte Lobbygruppe (Der Spiegel 28. Februar 2022). Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus universitären und außeruniversitären Wissenschaftsinstitutionen stellen dem Bundestag, den Leitungsebenen der Bundesministerien und der Bundesregierung eine umfangreiche, sehr spezifische Sachexpertise zur Verfügung, die je nach Anliegen abgerufen wird. Hier geht es allerdings in großen Teilen um wissenschaftlich-basierte Beratung, nicht um politische, wirtschaftliche oder strategische Interessenvertretung. Weder das Gesetz noch das Register sensibilisieren für diesen feinen aber entscheidenden Unterschied.
Gefährliche Grenzverwischung
In momentaner Ausgestaltung trägt das Gesetz daher zu einer gefährlichen Grenzverwischung zwischen Wissenschaft und Lobbyismus bei, die sich international in der Diskussion über "alternative Fakten" niederschlägt. Wissenschaft wird zu einer Meinungsäußerung und Interessenbekundung reduziert. Der Unterschied zwischen strategisch-motivierter Interessenvertretung und wissenschaftlich-basierter Beratung wird weder reflektiert, noch findet er Berücksichtigung im Lobbyregister selbst. Politikberatende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen werden im Register mit Lobbyisten gleichgesetzt. Dies wird durch das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen Interessenvertretern aus Wirtschaft und Verbänden auf der einen Seite und auf der anderen Seite Wissenschaft und deren deutlich höhere Anzahl, sobald alle Universitäten ihre politikberatenden Wissenschaftler eingetragen haben, weiter unterstrichen. Suggeriert wird eine Vermischung wissenschaftlicher Politikberatung und strategischer Interessenvertretung, die von der eigentlichen Aufgabe dieses Registers ablenkt: transparent aufzuzeigen, welche strategisch-motivierten Interessenvertretungen aus Wirtschaft und Gesellschaft politische Entscheidungsprozesse mitprägen.
In einer Zeit, in der ein Teil der Gesellschaft Wissenschaft als analytische und (selbst-)kritische Instanz die Existenzberechtigung entzieht und als eine Form der Meinungsmache ansieht, schließt sich der Bundestag daher einem für die Demokratie und offene Gesellschaften gefährlichen Diskurs an. Eine Klassifizierung wissenschaftlich-basierter Beratung als "Lobbyismus" entspricht keinem aufgeklärten Wissenschaftsverständnis. Es ist auch ein Affront gegenüber den in der Wissenschaft eigenen Mechanismen von peer-review-basierter Qualitätskontrolle und Selbstregulierung.
Die angestrebte Transparenz des Lobbyregisters sollte im Austausch mit der Wissenschaft weiterentwickelt und sichergestellt werden – dies jedoch erstens ohne wissenschaftliche Beratung mit strategisch-motiviertem Lobbyismus gleichzusetzen und zweitens indem die der Wissenschaft eigenen Prozesse der Qualitätssicherung in wissenschaftlicher Politikberatung gestärkt werden.
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