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Wissenschaft und Politik
"Wissenschaft muss intervenieren"

Darf sich die Wissenschaft noch länger als reiner Wissenslieferant verstehen? Unser Autor hinterfragt ihre Rolle in Politik und Gesellschaft.

Von Dieter Lenzen 11.06.2021

Die klassische systemische Binarität der Wissenschaft, "wahr/unwahr", beginnt zur Disposition gestellt zu werden. Solche Diffusionserscheinungen gelten nicht für alle sozialen Teilsysteme, aber sicher zum Beispiel für das Eindringen des wirtschaftlichen Codes in das wissenschaftliche System, aber auch des religiösen Codes, und, schon beginnend in den 1970er Jahren, des rechtlichen Codes (Verrechtlichung im Bildungssystem). Niklas Luhmann hat das wie folgt beschrieben: "Damit ist nicht geleugnet, dass es externe Interventionen geben kann bis hin zu massivem Druck, sich mit bestimmten Themen zu befassen. Die Wissenschaft kann darauf intern aber nur in der Form von Irritation reagieren." – Das kann man beklagen, man könnte allerdings auch überlegen, inwieweit man sich die gewachsene Interpenetration zwischen gesellschaftlichen Systemen und der Wissenschaft zu Nutze macht.

Strategieerwartung der Politik

Das Wissenschaftssystem wird nun seit etlichen Jahren von der Politik, die sich eigentlich aus der unmittelbaren Steuerung wissenschaftlicher Einrichtungen zurückgezogen hat, mit einer Strategieerwartung überzogen. Diese Erwartung zu erfüllen setzt für eine Hochschulleitung voraus, die tendenzielle Steuerungsresistenz der mittleren und unteren Entscheidungsebene der Universität (Fakultäten beziehungsweise Lehrstühle), das heißt den individuellen Widerstand gegen Leitungsentscheidungen oder Ignoranz ihnen gegenüber, neutralisieren zu können. Eine "Gesamtstrategie" zu formulieren läuft das Risiko eines Glasperlenspiels, mit dem man Begehungen des Wissenschaftsrates besteht, aber keine mittel- bis langfristigen Transformationen der Einrichtung Universität einleitet. Denn deren Leitung verfügt über ebenso wenig Steuerungsmacht wie der Staat selbst, weil die Leitung entweder als illegitime Verlängerung des Staates wahrgenommen wird oder schlicht als wissenschaftlich inkompetent oder befangen, weil eine Hochschulleitung gleichzeitig auch im Teilsystem Politik agieren und deren Codes bedienen muss.

"Eine 'Gesamtstrategie' zu formulieren läuft das Risiko eines Glasperlenspiels."

Reputation und Geld

Eine Toleranz gegenüber den Paradoxien, die daraus erwachsen, war so lange funktional wie die Ressourcen dafür ausreichten, die internen Paradoxien (insbesondere Konflikte mit den Mitgliedern) mit Ressourcen zuschütten zu können. Für die Wissenschaft gibt es neben Zeit jedoch nur zwei Ressourcen: Reputation und Geld. Der Reputationsverlust einerseits ist angesichts der Vervielfältigung von wissenschaftlichen Einrichtungen, wissenschaftlichem Personal und wissenschaftlichen Meinungen erheblich. Dieses auch, weil Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich wachsend den Imperativen des "Projektkapitalismus" (Boltanski/Chiapello) beugen und Projekte verfolgen müssen, die das Prozessieren der Binarität "wahr/unwahr" nicht voranbringen, sondern nur der wirtschaftlichen Differenz "zahlen/nicht-zahlen". Indem andererseits seit etwa 1975 eine ständige Verkleinerung der Ressource Geld hinzutritt, werden die bestehenden Paradoxien offenkundiger, drängen in Richtung Auflösung im Sinne der Durchsetzung partikularer Interessen oder individueller Steckenpferde von Subeinrichtungen oder Mitgliedergruppen. Mancher versucht, wenn schon nicht mehr öffentliche Hochachtung zu gewinnen, so doch wenigstens ein paar Drittmittel.

Bearbeitung von Paradoxien

Die Idee der Postmoderne, Paradoxien in sich bestehen zu lassen (beispielsweise Universität der Exzellenz und gleichzeitig der Routine) scheitert tendenziell an dem Ressourcenmangel. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die bestehenden Paradoxien bearbeitet werden können. Grundsätzlich gibt es (außer dem Erhalt der Paradoxien) folgende Möglichkeiten:

  • Ein Kollaps des Wissenschaftssystems beziehungsweise seiner Subsysteme wird bewusst in Kauf genommen. Das Wissenschaftssystem wird artfremden Systemen wie Wirtschaft oder Religion subordiniert. Dieses kann für Entscheidungsträger wie Hochschulleitungen als gleichzeitigen Amtsträgern keine Option sein, findet unter Krisenbedingungen aber temporär ungewollt statt.
  • Durchsetzung einer funktionalen Differenzierung (zum Beispiel Universitäten stehen für exzellente Forschung und nur diese, Fachhochschulen für Berufsausbildung). Diese politisch seit 40 Jahren diskutierte Zieloption wird durch beteiligte Interessenträger dauerhaft unterlaufen. Die Steuerungskraft des politischen Systems hat offenkundig nicht ausgereicht, dieses durchzusetzen.
  • Grundsätzlich bietet sich die Suche nach dritten Wegen an. Diese Überlegung hat im Wirtschaftssystem eine bedeutsame und über einen langen Zeitraum auch funktionierende Rolle gespielt, zum Beispiel soziale Marktwirtschaft oder im Kunstsystem das Nebeneinander des Ornamentalen und der autonomen Kunst am Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Beispiele zeichnen sich dadurch aus, dass die dritten Wege dadurch begangen wurden, dass die klassischen Systemgrenzen transzendiert wurden. So wird Kunst nicht nur auf Schönheit, sondern auf Bedeutung, Wirtschaft nicht nur auf Profit, sondern auch auf "Gerechtigkeit" programmiert und so weiter.

Die klassische Binarität überschreiten

Aber was würde das für die Wissenschaft bedeuten? Was würde es bedeuten, wenn man etwas wirklich Neues machen würde und die klassische Binarität von wahr/unwahr als Systemcode durch eine gezielte und nicht akzidentelle Transgression der klassischen Wissenschaftsgrenzen überschritte?

Wissenschaft ist seit der Frühaufklärung selbstreferenziell, das heißt der Fortschritt im Erkenntnisvorgang bezieht sich jeweils auf einen vorangegangenen Stand der Erkenntnis und nicht nur auf die Wirklichkeit. Diese Selbstreferentialität könnte gezielt durch Fremdreferenz ersetzt oder zumindest ergänzt werden. Fremdreferenz für Wissenschaft würde bedeuten, dass in der Wissenschaft auch Reflexionen zugelassen und (auch ökonomisch) gefördert würden, die sich, auch normierend, nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf andere gesellschaftliche Teilsysteme beziehen. Platt formuliert: Wissenschaft redet mit bei Politik, Kunst, Erziehung, Recht und so weiter. Nicht: Wissenschaft gibt Auskünfte. Das ist ansatzweise in der Wissenschaft teilweise schon der Fall, wenn etwa Auftragsforschung aus der Wirtschaft übernommen wird oder Politikberatung in Entscheidungsgremien stattfindet. Viel weitergehend verfügen andere soziale Systeme längst über einen gewachsenen Universalitätsanspruch: Kunst beansprucht ein eigenes, schöpferisches Wirklichkeitsverhältnis, Recht soziale Steuerung, Wirtschaft Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse und so weiter.

"Wissenschaft bedient sich ihrerseits des eigentlich politischen Systemcodes "Macht/Nicht-Macht", indem sie für sich selbst politische Macht beansprucht."

Wenn man bis hierher mitgehen mag, dann würde sich die Frage stellen, ob Wissenschaft und ihre Institutionen eine Art Mixcode verwenden könnten, der sich die Codes anderer Teilsysteme einverleibt und selbst produktiv wendet. Am Beispiel von Wirtschaft/Wissenschaft: Der in die Wissenschaft eingedrungene ökonomische Code "zahlen/ nicht zahlen" müsste transgrediert werden in ein Eindringen des wissenschaftlichen Codes in den wirtschaftlichen. Und, weitestreichend: Wissenschaft bedient sich ihrerseits des eigentlich politischen Systemcodes "Macht/Nicht-Macht", indem sie für sich selbst politische Macht beansprucht. Es ginge dabei also um eine Art Interventionswissenschaft – Was übrigens eine Nachjustierung für den Code des politischen Systems, "mächtig/ohnmächtig", bedeuten würde, wird seit 1968 diskutiert: Reduziert sich Wissenschaft auf die Analyse sozialer Handlungen oder nimmt sie selbst gestaltenden Einfluss auf Politik (zum Beispiel im Sinne von "Aktionsforschung", die in den 1970er Jahren ihre Konjunktur hatte)?

Neue Selbstbeschreibung der Universität

Man sieht sehr schnell, dass solche Transgressionsversuche, wenn sie theoretisch fundiert betrieben werden, eine in Teilen schon vorhandene, teilweise neue Selbstbeschreibung der Universität sein könnten. Dann müsste der Anspruch erweitert werden, nämlich nicht nur Wahrheitslieferantin zu sein, sondern institutionalisierte kreative Wirklichkeitsbearbeitung, die sich Teilcodes anderer Teilsysteme einverleibt. Das hieße für die Wissenschaft, gezielt und nicht zufällig neue Aktionsformen zusätzlich zur Forschung zuzulassen. Oder mehr: zu betreiben. Zum Beispiel Politik zu betreiben, künstlerische Formen der Wirklichkeitsbearbeitung zu wählen, selbst wirtschaftlich tätig zu sein und so weiter.

Für eine solch waghalsige Operation existiert bereits eine mögliche Basis: Transfer. Es ist wichtig, dass Transfer sich von Anfang an nicht an dem traditionellen Verständnis von Technologietransfer orientiert. Dazu hat Niklas Luhmann schon früh formuliert:

"Jedenfalls ist das klassische Modell des logisch gesicherten Wissenstransfers überholt. An dessen Stelle treten Theorien, die die sozialen Bedingungen der Ausbreitung und die damit verbundene Veränderung von Information stärker beachten. Ähnlich wie bei den Optimierungsrechnungen von Ökonomen spricht nichts dagegen, die Vorstellung eines Wissenstransfers in stark limitierten Kontexten weiterhin zu benutzen. Als Beschreibung der Beziehung der Wissenschaft zu ihren Leistungsempfängern und erst recht als Beschreibung des Gesellschaftsverhältnisses der Wissenschaft reicht es nicht aus."

Universitäten könnten Paradoxien aufgreifen

Wissenschaft bezogen auf sich selbst und auf die anderen: Das ist letztlich die Grundparadoxie gegenwärtiger Wissenschaft, auf die Wissenschaft gegenwärtig mit Selbstbeschränkung antwortet. Universitäten könnten indessen die Aufgabe haben, Paradoxien in der Gesellschaft und ihren Teilsystemen rechtzeitig aufzuspüren, aufzugreifen, zu analysieren und daraufhin abzutasten, inwieweit sie Bestandteil der Selbstbeschreibung Universität sein könnten. Die Universität wäre dann nicht mehr nur eine Wissenschaftseinrichtung, sondern eine solche der universellen transgressiven, komplexitätsmutigen, "pluridoxen" Wirklichkeits(-bearbeitung/-verarbeitung/-begegnung/-beobachtung): "Wirklichkeitswissenschaft" oder eben Interventionswissenschaft. Das wäre vermutlich im systemischen Sinne die treffendste Bezeichnung, weil sie dem Umstand gerecht wird, dass Wissenschaft nicht nur im gegenwärtigen Zustand, sondern in einem zukünftigen, mindestens Beobachterin zweiter, wenn nicht x-facher Ordnung ist. Wir beobachten Wissenschaft dabei, wie sie die Gesellschaft (Politik, …) dabei beobachtet, wie sie Wirklichkeit beobachtet. Das hätte erhebliche Folgen für den Typus moderner Wissenschaft nach dem Muster der Moderne. Der Wahrheitscode würde ersetzt durch eine Art Wirklichkeitscode: machbar/nicht machbar. Wissenschaftliches Wissen ist dann nicht wahr, sondern eine "Konstruktion des Verwenders" (Luhmann). Der Verwender befindet sich dann aber nicht mehr nur außerhalb, sondern mitten in der Wissenschaft.

Die Ergänzung des Wahrheitscodes in Richtung (politisch) machbar/nicht machbar (oder andere funktionale Äquivalente) ist nicht so gedacht, dass Wissenschaft in reflexionslosen Aktionismus entgleiten darf. Vielmehr sind einige für das Teilsystem Wissenschaft auch konstitutiv bleibende Binaritäten zu sichern. Als Fragen formuliert:

  • Wie lässt sich anwendungsbezogene Forschung noch grundlagentheoretisch steuern? (vgl. Luhmann)
  • Wie sichert man die "Außenfassade der Sicherheit wissenschaftlichen Wissens"? (Luhmann)
  • Wie verhindert man ein niedriges Theorieniveau durch die Zusammenarbeit mit außeruniversitären Akteuren, die immer nur episodisch sein und sich nicht für den Wahrheitscode der Wissenschaft begeistern kann?

Die Bereitschaft, sich auf einen solchen Code einzulassen ist bei der Zusammenarbeit mit Akteuren aus anderen Teilsystemen unterschiedlich entwickelt. So ist es Akteuren des Wirtschaftssystems eher herzlich egal, ob die Wissenschaft ihren Wahrheitscode sichert, während Akteure des Systems Kunst ihren eigenen schöpferischen Code unter Umständen in die Nähe des Wissenschaftlichen bringen würden und umgekehrt Wissenschaft (norm)schöpferisch würde.

Wissenschaftsintervention

Man kann das alles auch ganz einfach sagen: Es wird Zeit, dass Wissenschaft sich nicht weiter auf Wissenslieferung beschränken darf, sondern dass und wie sie – wegen besseren Wissens – selbst in den gesellschaftlichen Prozess intervenieren muss, damit Wirklichkeit nicht nur per Macht, sondern auch per Wissen determiniert wird. Das Desaster der Pandemiebekämpfung durch die Politik und die Medien im ständigen Rückgriff auf immer neue "Experten" verdeutlicht diesen Bedarf. Noch einfacher: Man darf Politik nicht gestatten, sich der ihr genehmsten Variante wissenschaftlicher "Wahrheit" zu bedienen, schon gar nicht mit Verweis auf die demokratische Legitimation der Politik, sondern diese wäre selbst unter Legitimationsdruck zu setzen: Nicht nur zu begründen warum sie einer Wahrheit (beispielsweise aus der Virologie) den Vorzug gibt, sondern warum sie eine andere (zum Beispiel aus der Physik) verwirft. Das liefe auf eine fruchtbarere wechselseitige Interpenetration von Wissenschaft und Politik hinaus. Wissenschaft könnte an Wirksamkeit gewinnen und Politik an Rationalität.

"Man darf Politik nicht gestatten, sich der ihr genehmsten Variante wissenschaftlicher 'Wahrheit' zu bedienen."

Literaturhinweise

Boltanski, Luc; Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006.

Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990.

1 Kommentar

  • Hinnerk Albert prinzipiell sollte der wissenschaftler das machen, was seine berufsbezeichnung ausdrückt. die intervention der politik in die wissenschaft besteht in einer voranstellung der ideologie vor fakten. wissenschaft ist eine faktenbasierte tätigkeit. sonst ist sie keine wissenschaft. die politische tätigkeit des wissenschaftlers ist es, die faktenbasiertheit der wissenschaft vor der ideologisierung derselben durch die politik zu beschützen. ideologie darf niemals über fakten stehen. dafür muß der wissenschaftler kämpfen. politisch.