Geschichte
Adorno – ein deutscher Klassiker
Theodor W. Adorno, dessen 50. Todestag sich am 6. August 2019 jährt, war eine der prägenden intellektuellen Gestalten in der Geschichte der Bundesrepublik – als Philosoph, als Soziologe, als Zeitdiagnostiker und Kunsttheoretiker, dem insbesondere Musik und Literatur als mehr galten denn bloße Überlebenszutat. Die Selbstreflexion kultureller Erfahrung platzierte er als Impetus von Philosophie, insbesondere in den beiden Jahrzehnten seines öffentlichen Wirkens, in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses. Untrennbar ist dieses Wirken mit der Geschichte der frühen Bundesrepublik verbunden: dem Sich-Einüben in die Standards des Demokratischen, das im Aufbau nach dem Ende des von den Nazis angezettelten Krieges keine Selbstverständlichkeit war.
Aufgewachsen in behüteten und umsorgten Verhältnissen schien der Frühbegabte auf schnellem Weg eine akademische Karriere realisieren zu können: 1924 promoviert der 1903 Geborene mit einer Arbeit über Husserl, 1925 studiert er mehrere Monate Komposition bei Alban Berg in Wien (zeitlebens verstand sich Adorno als Anwalt der Neuen Wiener Schule, der er die "Philosophie der neuen Musik" an die Seite stellte – als Buch ist sie 1949 als erstes seiner Bücher in der Bundesrepublik erschienen). 1931 habilitiert er sich im Fachbereich Philosophie der Universität Frankfurt mit einer Arbeit über Kierkegaard und hält dort seine Antrittsvorlesung "Die Aktualität der Philosophie".
Danach betrifft ihn die katastrophische Zäsur der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert unmittelbar: Im September 1933 wird ihm die Lehrbefugnis durch die Nationalsozialisten entzogen. Es beginnen die Jahre des Exils – wichtigste Stationen sind Oxford und ab 1938 New York. Dort ist er offizieller Mitarbeiter von Max Horkheimer im Institut für Sozialforschung. Ab 1940 hat er dort eine volle Stelle, unter anderem um die Zeitschrift für Sozialforschung redaktionell zu betreuen.
Walter Benjamin hat Adornos Arbeit zutiefst geprägt
In die Jahre davor fällt die intensive Diskussion mit der für Adorno intellektuell zentralen Bezugsperson Walter Benjamin, der sich am 26. September 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben nimmt. Das Gespräch mit ihm hat Adornos Arbeit bis hin zu der 1970 posthum von seiner Frau Gretel Adorno und Rolf Tiedemann herausgegebenen "Ästhetischen Theorie" zutiefst geprägt: 1965 wird er sagen, daß er es für sich "als eine sehr wesentliche Aufgabe betrachtet, alles zu tun, um das, was von seinem (Benjamins) Werk vorhanden (oder) als Fragment erhalten geblieben ist, so weit herzustellen, dass eine Ahnung davon erweckt wird." Benjamin als Referenz, Horkheimer als Gesprächspartner: das formiert die Gestalt und den Anspruch 'Kritischer Theorie', für die Adorno in spezifischer Weise steht und die sich von nachfolgenden Formen deutlich abhebt.
Inmitten der desolaten geschichtlichen Situation – auf der einen Seite die Ausradierung des bürgerlichen Europa durch die Nazis, auf der anderen Seite das stalinistische Regime – beginnen Horkheimer und Adorno 1942 die Arbeit an der "Dialektik der Aufklärung" – erscheinen wird sie als Buch 1947 (inzwischen war der Zivilisationsbruch der Shoah in seinem vollen Ausmaß klar geworden). Das Buch ist von heftigen Debatten umschattet, im Kontext der "68er"-Zeit war es ein Ferment der Diskussion.
Um Kolportagen entgegenzutreten, gab es 1969 eine autorisierte Neuausgabe. Bis heute ist das Buch als Stichwort dafür, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht als Naturereignisse zu betrachten, sondern von ihrer Genealogie wie der Brisanz ihres Wiederholbarseins her zu begreifen, eines der wichtigeren philosophischen Bücher eben dieses Jahrhunderts.
"Die 'Minima Moralia' avanciert zum oft zitierten moralphilosophischen Referenzbuch der jungen Bundesrepublik."
1949 kehrt Adorno nach Deutschland zurück, eine "planmäßig außerordentliche Professur" erhält er 1953, eine "ordentliche für Philosophie und Soziologie" 1957. Mit Horkheimer bemüht er sich um den Wiederaufbau des Instituts für Sozialforschung. 1951 publiziert er im Suhrkamp-Verlag die Minima Moralia. Was er hier als "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" vorlegt, avanciert schnell zum oft zitierten moralphilosophischen Referenzbuch der jungen Bundesrepublik: Adorno beginnt zum Ansprechpartner einer ganzen Generation zu werden, der er gelegentlich zum intellektuellen Übervater wird, mit dem man sich von den eigenen Vätern zu entlasten versucht. Dies wird sich in der hitzigen Phase der 68er-Zeit rächen, in der Adorno massiven (Züge eines "Vatermords" tragenden) Verunglimpfungen ausgesetzt ist.
In den 60er Jahren war Adorno omnipräsent
Ab Mitte der 50er Jahre war Adornos Präsenz im gesellschaftlichen Diskurs auf Grund seiner enormen Produktivität immer stärker geworden und erreichte bis Mitte der 60er Jahre ihren (zu der Zeit nur der Wirkung von Ernst Bloch vergleichbaren) Höhepunkt: Die "Noten zur Literatur", Arbeiten zur Kulturkritik, die Schriften zur Musik – insbesondere die auf breitere Wirkung zielenden: "Dissonanzen.
Musik in der verwalteten Welt", die Monographien zu "Wagner, Berg und Mahler" (die eine wahrhafte Mahler-Renaissance einläuteten), das Bändchen "Einleitung in die Musiksoziologie" – ließen Adorno in gewisser Weise omnipräsent sein (die genannten Titel listen nur eine kleine Auswahl seiner Arbeiten aus dieser Zeit auf). Zuvor hatte er 1955 mit der zusammen mit seiner Frau herausgegebenen zweibändigen Ausgabe von Benjamins "Schriften" diesen nach Deutschland zurückgebracht (diese Ausgabe blieb resonanzlos, erst in den 60er Jahren avancierte Benjamin zum Kultautor).
Parallel zur Omnipräsenz als öffentlicher Intellektueller (eine Ikone des kulturellen Gedächtnisses der BRD ist das Foto, das ihn im Mai 1968 zusammen mit Siegfried Unseld und Heinrich Böll bei einer Protestkundgebung gegen die Notstandsgesetze zeigt) hatte sich Adorno ab Mitte der 50er der Arbeit daran zugewandt, von dem er beanspruchte, es 'in die Waagschale werfen zu können' – der Auseinandersetzung mit dem Kernbestand der an Kant und Hegel anschließenden Diskussion.
War 1956 die Husserl-Arbeit "Zur Metakritik der Erkenntnistheorie" erschienen, so beginnt der Weg zu dem einen Hauptwerk: der "Negativen Dialektik", 1957 mit der Publikation von "Aspekte der Hegelschen Philosophie". Die "Negative Dialektik" erschien dann 1966. Insbesondere in ihrem Schlusskapitel "Meditationen zur Metaphysik" erfüllt sie den Hegelschen Anspruch, dass Philosophie "ihre in Gedanken erfasste Zeit" zu sein habe. Hier formuliert Adorno auch, was er als "neuen kategorischen" begreift: das "Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe."
"Davon, dass Identifikationsfiguren polarisieren, ist seine Wirkungsgeschichte einschneidend geprägt."
Konnte Adorno dieses eine Hauptwerk noch für die Publikation fertigstellen, so war ihm das für sein anderes Hauptwerk, die "Ästhetische Theorie", nicht mehr vergönnt. Gleichwohl formuliert es die (bis in erste auf 1931/32 zurückreichende Aufzeichnungen) Summe seines Denkens und gehört zu den wirkmächtigsten Texten zur Ästhetik aus dem 20. Jahrhundert. Gerade auf sie – wie auch auf die Frage einer 'Dialektik des Negativen' – nehmen die Diskussionen am Beginn des 21. Jahrhunderts wieder verstärkt Bezug. Ein Bezug, der sich aus einprägsamen Formulierungen erklärt, wie der folgenden: "Worauf die Sehnsucht an den Kunstwerken geht – die Wirklichkeit dessen, was nicht ist –, das verwandelt sich ihr in Erinnerung."
Doch von der posthum erschienen Ästhetischen Theorie zurück zum politöffentlichen Kontext der 60er Jahre. Adorno war zu einem der einflussreichsten Lehrer der zweiten deutschen Republik geworden; zur Identifikationsfigur. Davon, dass Identifikationsfiguren polarisieren, ist seine Wirkungsgeschichte einschneidend geprägt. An der Stelle, an der die Rebellischen der 68er-Generation sich enttäuscht von Adorno abwandten und er deren Aktionismus als Fortsetzung eben der Verhaltensweisen diagnostizierte, die die "Antiautoritären" an ihren Vätern kritisierten, kippte die unmittelbare Präsenz Adornos in eine vermittelte. Nach seinem unerwarteten Tod im August 1969 verstrich einige Zeit, die Wogen des tagespolitisch Bedingten glätteten sich – und Adorno wurde zum Klassiker.
Interdisziplinärer Vordenker
Auffällig ist, dass und wie bei Adorno, in Differenz zu anderen Vertretern der ersten Generation Kritischer Theorie wie Max Horkheimer oder Herbert Marcuse, zu Beginn des 21. Jahrhunderts – nach Adornos 100. Geburtstag 2003 – eine Reaktivierung zentraler Motive seines Denkens einsetzt, die dazu führt, dass niemand an ihnen vorbei kann, wie immer man dieses sein Denken auch verstehen und bewerten mag. Name und Werk stehen für ein Arbeitsprogramm: "nach Auschwitz" denken und die zerstörte (deutsche) Tradition retten, das Unausdenkbare der Shoah erinnern und doch die Kultur der großen Musik und Literatur wie Philosophie nicht preisgeben, die Liebe zu Beethoven, zu Hölderlin, Hegel und Nietzsche und auch Wagner durch alles kritische Fegefeuer hindurch festhalten – und dies im Bewusstsein einer Geschichte, die sie entstellt, missbraucht und schuldig gemacht hat.
"Dabei sind es die materialen Arbeiten, insbesondere die zur Musik, in denen Adorno Maßstäbe gesetzt hat."
Es ist die rückhaltlose Selbstreflexion kultureller Erfahrungswirklichkeit in all ihren wissenschaftlichen, ästhetischen und sozialen Dimensionen, zu der Adornos Werk in paradigmatischer Weise anregt. Dabei sind es die materialen Arbeiten, insbesondere die zur Musik, in denen Adorno Maßstäbe gesetzt hat. Am erfahrungsgesättigten Detail konkretisiert sich bei ihm die Programmatik negativer Dialektik und unterläuft die Departmentalisierung des Geistes: seinem Denken eignet – lange bevor das Wort Mode wurde – eine Interdisziplinarität, die sich in der Verschränkung von Kunst, speziell der Musik, Philosophie und Wissenschaft und im kritischen Übergang dieser Sphären ineinander realisiert.
Der Sache nach steht sein Werk für eine Freiheit des Denkens, das sich nicht im vorauseilenden Opportunismus des Faktischen erschöpft. Mit dem Opportunismus solch gemäßigten "Philosophierens" hat sich Adorno nie beschieden. Im Mai 1969 unterbrach er die einleitende Bemerkung zum Interview im "Spiegel": "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung …" mit der Feststellung: "… mir nicht."
Daran ist festzuhalten und zugleich vor Missverständnissen dieses Satzes zu warnen: nicht vor jener meist akademischen Missgunst, die ihm unwissenschaftliches Romantisieren vorwarf, vielmehr vor jenen regressiven Kurzschlüssigkeiten, aus denen heraus Adorno wie dem Konzept Kritischer Theorie, für das er steht, Resignation vorgeworfen wurde. Auf diesen Vorwurf hat er in "Resignation", einem seiner letzten Vorträge, mit der Feststellung geantwortet: "Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. (…) Glück" sei der Gedanke noch da, "wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht." Wer sich das "nicht verkümmern lässt, der hat nicht resigniert." Daran ist heute mehr denn je – und nicht bloß, weil sich Adornos Todestag zum fünfzigsten Mal jährt – zu erinnern.