Gemälde mit Mann vor Wasserfall
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Wahrheit
Das Kunstwahre

Wie hat sich das Verständnis von Wahrheit in der Kunst im Laufe der Kunstgeschichte gewandelt? Welche Rolle spielte die Wahrhaftigkeit des Künstlers?

Von Wolfgang Kemp Ausgabe 9/17

Im Sommer 1853 machten John Ruskin, Effie Ruskin und John Everett Millais eine Tour ins schottische Hochland. Englands führender Kunstkritiker, seine Frau und der Maler aus der sich langsam durchsetzenden Schule der Präraffaeliten, sie wollten in den Bergen malen, zeichnen, schreiben und geologische Studien treiben. Dann beschloss Millais, Ruskin ein Porträt zu widmen, und errichtete vor einem Wasserfall eine Art Open Air-Atelier, in dessen Schutz er sein Modell malte, wie es auf einem großen Gneisfelsen stand, hinter ihm der Sturzbach und eine Felswand. Es regnete die ganze Zeit, das Trio hielt eine Weile aus, um dann nach London zurückzukehren, die frisch verliebte Effie verließ den einen John, wurde geschieden und heiratete den anderen John – und was wurde aus dem Bild? Viktorianischer Werkethik zufolge musste es fertiggestellt werden.

Millais reiste im folgenden Jahr wieder ins Hochland: selber Ort, selbe Jahreszeit. Hochbefriedigt teilte er mit: „Kaum ein Blatt ist verrückt.“ Der Hintergrund war gesichert, jetzt musste nur noch das Bild des Mannes zu Ende gemalt werden. Das geschah in seinem Atelier. Diese Sitzungen dürften zu den schwierigsten in der Geschichte der Porträtmalerei gehören. Ruskin war sehr zufrieden mit der Wiedergabe des Setting, aber nicht glücklich mit seinem Gesichtsausdruck: der Blick aus dem Atelierfenster auf die Gower-Street habe zu viel Gower-Street seinem Ausdruck mitgeteilt – gemeint war ein steriles Londoner Neubauviertel, wie Ruskin es hasste. Auf jeden Fall hatte Millais versucht, dem Diktum des Kritikers gerecht zu werden: "Die präraffaelitische Kunst kennt nur ein Prinzip, das Prinzip absoluter, kompromissloser Wahrheit, das man nur erreicht, wenn man alles, wirklich alles bis zum letzten Detail vor der Natur und nur vor der Natur arbeitet."

Zwei Ebenen

In Kunstdingen gilt es zwei Klassen oder Ebenen von Wahrheit zu unterscheiden: die Wahrheit in der Kunst und die Wahrheit der Kunst. Wahrheit in der Kunst ist relational und bezogen auf außerästhetische Systeme und auf ästhetische Normen. Im Fall des Ruskin-Porträts verpflichtet sich der Künstler auf die korrekte Wiedergabe der äußeren Realität und kann sich der Wahrheit seiner Kunst nur sicher sein, wenn er in engstem Kontakt mit dem Abbildungsgegenstand arbeitet. Wahrheitstheoretisch würde man vom Äquivalenzschema sprechen und für die Bildende Kunst den alten Satz "Veritas est adaequatio rei et inellectus" übersetzen in "Veritas est adaequatio rei et artis".

Spezielle Aufmerksamkeit verdient Ruskins Behauptung, Gower-Street und nicht die wilde Natur Schottlands bildeten sich in seiner Gesichtsmimik negativ ab. Hier wird auf den Faktor Rahmenbedingungen verwiesen, der für das induktive Verfahren des Realismus den Grund legt: individuelle Wahrheit, wie sie ein Porträt erzeugen möchte, gibt es nur unter den Bedingungen eines bestimmten Ortes und einer bestimmen Zeit. Die Erfüllung dieser erfahrungsabhängigen Voraussetzungen schließt Wahrheit sehr eng an Wahrhaftigkeit an, ein ganz hoher Wert im ethisch aufgeladenen ästhetischen Denken der Viktorianer.

Wenn das Gemälde einen Mann im schottischen Hochland zeigt, sein Gesicht aber in London gemalt wurde, dann nützt alle Ähnlichkeit nichts: Der Wahrhaftigkeitsanspruch hat Schaden erlitten, also ist das Werk nicht auf der Seite der Wahrheit zu finden. Der Wahrheitsgehalt eines realistischen Bildes basiert ganz entscheidend auf der Erarbeitung des größeren Zusammenhangs, damals auch Milieu genannt, der sich aus der wechselseitigen Abhängigkeit von individueller Gegebenheit und Kontext herstellt. Adaequatio ist nicht genug, cohaerentia muss sein. Dann wird aus Wahrheit in der Kunst die Wahrheit der Kunst.

Die Moderne und ihre höheren Wahrheiten

"Oublions les choses, ne considerons que les rapports!", hat Georges Braques einmal gefordert, als Kubist einer der Protagonisten der Radikalmoderne. "Vergessen wir die Dinge, berücksichtigen wir nur die Beziehungen!" – damit meinte Braque nicht die Interdependenzen der weltlichen Milieus, sondern den innerästhetischen Wahrheitsgehalt der Gesetze der Komposition. Die Moderne verlangt nach einer neuen Form von Gerechtigkeit, die man eine "Werkgerechtigkeit" genannt hat: Material- und Formgerechtigkeit sollten zu diesem hohen Ziel beitragen, das nur durch eine permanente Erforschung der Mittel und ihrer Gesetzlichkeiten zu erreichen war. Um nur ein beliebig herausgegriffenes Zitat zum Beleg anzuführen: Katarzyna Kobro, eine polnische Konstruktivistin, seit 1924 Mitglied der avantgardistischen Blok-Gruppe, dekretierte damals: "Die Skulptur ist ein Teil des Raumes, der sie umgibt. Das eine darf vom anderen nicht getrennt werden. Die Skulptur dringt in den Raum ein und der Raum in die Skulptur ein. Die traditionelle Plastik ist eine Lüge, denn sie schließt die Skulptur ein und trennt sie vom Raum ab."

Typisch ist an dieser Passage, wie sie das künstlerische Problem erst einmal in die beteiligten Elemente zerlegt und dann deren Relation normativ zu bestimmen versucht: wie Körper (gleich Skulptur) sich zu Raum, Farbe zu Form, Linie zu Form, Figur zu Fläche usw. verhält, das zu untersuchen führt zu den Wahrheiten des Formalismus. Und dabei beachte man den Plural, denn es handelt sich um einen nicht abschließbaren Prozess: Die Serie ist deswegen der Formtypus der Moderne und eine ihrer höheren Wahrheiten.


Auch Ruskin hatte ein Problem mit dem Raum (Gower-Street) und dem zweiten Mann im Raum (Millais), aber das waren die Probleme eines Individuums im sozialen Raum und nicht die eines Körpers im Systemraum. Der große Rückzug der Kunst auf sich selbst hatte danach begonnen, und er hatte weit über das Programm des Formalismus hinaus noch ganz andere Probleme mit sich zu lösen: Marcel Duchamp etwa machte den Kunstcharakter der Kunst und die Rolle des Künstlers zum Thema, René Magritte die Medialität des Bildes – zwei Projekte, an denen bis heute ständig weitergearbeitet wird. Seit Duchamp sich mit der Erfindung des Ready Made aus der praktischen Herstellung von Kunst zurückzog, lässt sich ein beträchtlicher Teil der Kunst des 20. Jahrhunderts unter "Mind Art" einordnen. Das heißt dann Konzeptkunst, Art about art, Institutionskritik, Kunst als Antikunst, Kunst als Wissenschaft etc.

In dieser Liste sind Strömungen genannt, die noch tiefer in die Eigensphäre des Kunstsystems dringen, um das Wahrheitspotenzial von Kunst heute auszuloten, ihren Spielraum, den ihr die institutionellen und ökonomischen Gegebenheiten lassen. In der sich selbst umgrenzenden und gleichzeitig ihre Grenzen schmerzhaft erfahrenden Kunst werden die systemischen Bedingungen zum Material und zum Lackmustest. Es ist kein Zufall, dass auf allen Leselisten zur Kunst der Gegenwart ein Titel ganz oben steht: Brian O’Dohertys "Inside the White Cube" (als Buch zuerst 1981), ein Traktat über das "naturgemäße" Habitat zeitgenössischer Kunst, den Galerieraum und seine "Ideologie". Auf die Raumtypen Naturraum, Atelierraum und dimensionaler Raum folgte der Kunstraum.

Die neue Form der Wahrheit

Irgendwie waren wir schon einmal an dieser Stelle. In Goethes Dialog "Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke" (1797) treffen sich der "Zuschauer" und der "Anwalt des Künstlers" im Theater, um über das Theater zu diskutieren. Ersterer besteht darauf, dass ihm in der Kunst "alles wahr und wirklich erscheinen möge". Der "Anwalt" fragt ihn dann, ob ihm das in der Oper auch gelinge: "Wenn aber die guten Leute da droben, singend sich begegnen und bekomplimentieren, Billets absingen die sie erhalten, ihre Liebe, ihren Hass, alle ihre Leidenschaften singend darlegen, sich singend herumschlagen, und singend verscheiden, können Sie sagen, dass die ganze Vorstellung, oder auch nur ein Teil derselben, wahr scheine? ja ich darf sagen auch nur einen Schein des Wahren habe?“ Nach halbherzigem Widerstand muss der "Zuschauer" aufgeben und konzediert: "Wenn die Oper gut ist, macht sie freilich eine kleine Welt für sich aus, in der alles nach gewissen Gesetzen vorgeht, die nach ihren eignen Gesetzen beurteilt, nach ihren eignen Eigenschaften gefühlt sein will."


So wird das Eigenrecht des "Kunstwahren", später sagt man: die Autonomie der Kunst, als die Bedingung ihrer Wahrheit konstatiert. Nun findet der Dialog aber nicht nur deswegen im Theater statt, weil die realitätsnahe Bühnenkunst die Frage nach dem "Kunstwahren" geradezu herausfordert. Anlass zur Diskussion ist der Umstand, dass in diesem Theater, in augentäuschender Manier gemalt, sich ein Theater samt Logen und Zuschauern ausspannt, vermutlich als Kulissenhintergrund. Ein Theater im Theater. Erst kommt die Autoreflexivität, dann die Autonomieerklärung. Für Goethe war diese Abfolge eine Steigerung. Heute wird Autonomie vorausgesetzt, die Selbstreflexion verabsolutiert. Die neue Form der Wahrheit heißt Korrektheit – korrekt verstanden seltener im politischen, als im kunstpolitischen Sinne, als genaueste Positionierung im Feld. Das ergibt gerade mal Wahrheit in der Kunst – besser: Wahrheit im Kunstbetrieb.