Das Bild zeigt ein Porträt von Professor Bernhard Pörksen

Standpunkt
Das peinliche Zeitalter

Das "postfaktische Zeitalter" sollte eigentlich das "peinliche Zeitalter" genannt werden als Symptom einer Neigung zur diskursiven Selbstaufgabe.

Von Bernhard Pörksen Ausgabe 2/17

Es könnte sein, dass das postfaktische Zeitalter, das Wissenschaftler derzeit rund um den Globus ausrufen, nur eine sehr kurze Halbwertszeit besitzt und dass man in der gegenwärtigen Phase des Interpretations-Trumpismus schon bald einen neuen Epochenbruch beschwören muss. Ich möchte da nicht zurückstehen und selbst einen Vorschlag machen. Ich meine: Das postfaktische Zeitalter sollte eigentlich das peinliche Zeitalter genannt werden, peinlich für die Weltgemeinschaft der Wissenschaftler, Symptom einer fatalen Neigung zur diskursiven Selbstaufgabe.

Warum? Wer diese Lehnübersetzung von post-truth im Ernst als Signatur einer Epoche begreift, weil der Brexit-Lügner Boris Johnson sich durchgesetzt und Donald Trump die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewonnen hat und weil überdies Fake-News und Propaganda-Postings durch die sozialen Netzwerke wirbeln, der macht gleich einen dreifachen Fehler. Er argumentiert, erstens, geschichtsblind, weil die Post-Truth-Diagnose, rein begriffslogisch gesprochen, besagt, dass Wahrheit früher einmal als das beherrschende Regulativ der Politik und des sozialen Miteinanders gegolten haben könnte. Das ist, dezent formuliert, eine ahistorische Idealisierung.

Der zweite Fehler besteht darin, dass man die Möglichkeit von Wahrheitserkenntnis implizit behauptet, ohne auch nur beiläufig anzudeuten, dass das sogenannte Faktische seit den frühen Skeptikern Anziehungspol des prinzipiellen Zweifels darstellt. Das heißt, diese Beschwörung eines Epochenbruchs ist erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch naiv, Ausdruck eines vorphilosophischen Feuilletonismus, der primär der publizistischen Selbsterregung dient.

Vor allem aber muss man, drittens, befürchten, dass dieser Begriff als Resignationsvokabel taugt, als verbalradikale Feier der eigenen Ohnmacht, die Wissenschaftler verstärkt zum Rückzug aus den Schmutzwelten des Öffentlichen animieren könnte. Was soll man schon gegen ein Zeitalter tun? Tatsächlich deutet der Begriff des Post-Faktischen eine erlebbare Wahrheitskrise zu einem bereits feststehenden Resultat der Menschheitsgeschichte um, zum kaum vermeidbaren Übel. Achselzuckend wird damit akzeptiert, dass das Rationalitäts- und Realitätsprinzip des Diskurses nicht mehr gilt und all die seltsamen Stammesfürsten mit ihrem Twitter-Account nicht wissen, dass Empirie mehr ist als ein diffuses Gefühl von Gewissheit.

Das heißt: In der Annahme, man lebe nun eben in postfaktischen Zeiten, akklamieren Wissenschaftler dem wohl schärfsten Angriff auf ihr Selbstverständnis – anstatt für eben dieses Selbstverständnis und seine gesellschaftliche Relevanz zu streiten. Ich muss selbstkritisch gestehen, dass mir für diese bizarre Diskursblüte der Ausdruck das peinliche Zeitalter auch nicht wirklich gefällt. Er ist, bei allem Ekel vor der haltlosen Übertreibung, zu schwach.