Krieg in der Ukraine
Historikerin sieht veränderte deutsche Erinnerungskultur
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verändert aus Sicht der Historikerin Tanja Penter die Erinnerungskultur in Deutschland. Zum 77. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs sagte die Professorin für Osteuropäische Geschichte der Deutschen Presse-Agentur, lange Zeit seien die 27 Millionen Kriegstoten der Sowjetunion mit russischen Opfern gleichgesetzt worden. Dies sei jedoch eine "Fehlwahrnehmung". Auch Ukrainer, Belarussen und andere Nicht-Russen seien am Sieg über den Nationalsozialismus beteiligt gewesen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wird in den meisten Ländern am 8. Mai gefeiert, also am Sonntag. In Moskau geschieht dies einen Tag danach. Penter, die an der Universität Heidelberg lehrt, sagte, in Russland sei die Erinnerung an den Sieg über Diktator Adolf Hitler weiterhin identitätsstiftend. Präsident Wladimir Putin habe das aus der Sowjetunion übernommene Thema der "Heldentaten" im Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, noch einmal verstärkt. Dagegen habe sich die Ukraine "schon länger auf die Opfer konzentriert".
"Der heutige Angriffskrieg wird ja im Prinzip der russischen Bevölkerung als eine Fortsetzung des Kriegs gegen Faschismus und die Nationalsozialisten verkauft. Das ist ein sehr emotional besetzter Erinnerungsort", sagte Penter. Dabei versuche Russlands Propaganda, den schon mehr als zwei Monate dauernden Krieg gegen das Nachbarland "durch einen Kampf gegen einen vermeintlichen Faschismus zu legitimieren". "Das ist ein Skandal", sagte die Geschichtswissenschaftlerin.
"Russische Nation könnte in eine Identitätskrise stürzen"
In Russland könne die Bevölkerung irgendwann verstehen, "welche schrecklichen Verbrechen an der Zivilbevölkerung im Zeichen des vermeintlichen Kampfes gegen den Faschismus in der Ukraine stattfinden". Für die russische Gesellschaft könnte dann der historische Bezugspunkt des Siegs über Hitler wegfallen. "Das könnte die russische Nation in eine Identitätskrise stürzen." Schon jetzt gebe es Brüche in russischen Familien, weil der Staatspropaganda verhaftete Eltern ihren besser informierten Kindern nicht trauten.
"Es gibt Verschiebungen in der Erinnerungskultur auch in Deutschland, die sichtbar werden", sagte Penter. Sie verwies darauf, dass in Berlin Denkmäler, die an den Sieg der Roten Armee erinnern, mit antirussischen Parolen beschmiert wurden. Darin sieht die 54-jährige einen Ausdruck von Enttäuschung von Menschen, die Putin ein solches Blutvergießen nicht zugetraut hätten. Zugleich sprach sie sich für eine differenzierte Betrachtung von Putins Krieg heute und Hitlers Krieg damals aus.
"Man muss das trennen. Die Leistungen der Sowjetunion bei der Niederschlagung des Nationalsozialismus, wofür wir auch dankbar sein müssen, werden ja nicht dadurch geschmälert", sagte Penter. Tatsache sei aber, dass dies nicht nur ein Sieg Russlands, sondern aller Völker der Sowjetunion war. "In der Sowjetarmee haben Millionen von Ukrainern gedient, die diesen Sieg mit errungen haben. Deshalb ist es so traurig, dass man nicht zu integrierenden Narrativen gefunden hat in dem gemeinsamen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus."
dpa