Eine Frau vergräbt das Gesicht in den Händen.
picture alliance / empics | Dominic Lipinski

Soziologie
Verlust in der modernen Gesellschaft

Verlustängste sind allgegenwärtig. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus, für Wissenschaft und Gesellschaft?

Von Andreas Reckwitz 20.11.2023

Verluste entfalten in der Gegenwartsgesellschaft eine breite Präsenz, und zwar in ganz unterschiedlichen Formen: Zerstörungen infolge des Klimawandels sind weltweit zu einem alltäglichen Phänomen geworden, drohende Heimatverluste und Verluste der Biodiversität die Folge. Ihnen stehen soziale Statusverluste und -ängste von "Modernisierungsverlierern" gegenüber, sei es in den Biografien der ehemaligen Industriearbeiter in Ostdeutschland oder im Mittleren Westen der USA, als Hintergrund des Protests der Gelbwesten in Frankreich oder in den "lost places" der Industrieruinen.

Auch historisch weit zurückreichende kollektive Traumata werden in den letzten Jahrzehnten in intensiver Weise öffentlich gemacht – von den Opfern der Sklaverei in den USA über die Beutekunst in europäischen Museen bis hin zu den Opfern sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Dass die politische Landschaft der westlichen Gesellschaften von einem Vertrauensverlust in die Demokratie geprägt ist, der wiederum "demokratische Regressionen" (Schäfer/ Zürn) befördert, dass die psychologisierte und therapeutisierte Kultur des spätmodernen Subjekts für Verletzungen, Scheitern und Traumata sensibilisiert, dass eine alternde Gesellschaft schließlich mit körperlichen Vulnerabilitäten in historisch einmaligem Umfang konfrontiert ist – auch diese ganz unterschiedlichen Phänomene tragen dazu bei, dass man in der Spätmoderne einen gesellschaftlichen Verlustschub feststellen kann.

Verlust als gesellschaftliches Querschnittsthema

Das Phänomen des Verlusts ist bislang vor allem ein Thema psychologischer Untersuchungen und nicht zuletzt der psychologischen Therapie gewesen. Will man gesellschaftliche Verlustschübe begreifen, gilt es jedoch, die Verluste auch der sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse systematisch zugänglich zu machen. Sie können so zu einem Querschnittsthema der Soziologie, der Ethnologie, der Geschichts-, Kultur- und Literaturwissenschaft und weiterer Disziplinen werden. Für einen sozial- und kulturwissenschaftlichen Bezugsrahmen der Verlustanalyse sind einige Grundmerkmale wichtig: der interpretative und narrative Charakter von Verlusterfahrungen, ihre Affektivität, der praxeologisch zu begreifende soziale Umgang mit ihnen ("doing loss") sowie die Bedeutung von sozialen Arenen der Aushandlung von Verlusten. 

Will man nicht im Gestus der Kulturkritik in die Klage über den "Verlust von…" (der Gemeinschaft, des Sinns und so weiter) einfallen, muss sich die Verlustanalyse auf die Selbstverständnisse in den sozialen Feldern und Lebensformen selbst einlassen: Ein Verlust hängt davon ab, dass er von Individuen, sozialen Gruppen, Institutionen oder auf diskursiven Arenen als ein solcher wahrgenommen und bewertet wird. Eine solche Interpretation als Verlust setzt voraus, dass etwas aus Sicht der Individuen oder Gruppen subjektiv oder sozial Wertvolles verschwunden ist – meist irreversibel. Verloren werden kann dabei Unterschiedliches: Menschen, Dinge, Lebensorte, körperliche Unversehrtheit, sozialer Status, Kapital und Macht, kulturelle Phänomene wie Wert oder Transzendenz, Ordnung, Kontrolle oder Zukunftserwartungen. Im sozial-kulturellen Rahmen haben die Verluste den Charakter einer "Erzählmaschine" (Georg Seßlen): Die Interpretationen sind häufig eingebettet in wirkungsmächtige Narrative – biografische, soziale, politische oder intellektuelle Verlusterzählungen.

Affektivität von Verlusten

Verluste enthalten dabei ihre eigene Affektivität: Die Individuen oder sozialen Gruppen sind an den wertvollen Zustand, der unwiederbringlich verschwunden scheint, emotional gebunden. In Anlehnung an Sigmund Freuds Trauer und Melancholie kann man formulieren: Nur was man geliebt hat, kann man betrauern. Oder abstrakter: Nur das, woran eine emotionale Bindung bestand, kann man tatsächlich "verlieren". Umgekehrt heißt dies, dass die Verlusterfahrung selbst in der Regel mit intensiven negativen Emotionen verbunden ist. Naheliegend ist die Trauer, aber auch Angst, Wut oder komplexe Emotionen wie Ressentiment, Empörung, Scham oder Angstlust tauchen auf. Verlusterfahrungen sind zugleich an eine Vielfalt von Verlustpraktiken gekoppelt, in denen ein doing loss stattfindet.

Dies reicht von Trauerritualen über psychotherapeutische Sitzungen und ökonomische Risikokalkulationen bis hin zu politischen Mobilisierungen von Opfern oder Verlierern. Die Verlustpraktiken strukturieren ihre eigene Zeitlichkeit: Häufig ist ein Bezug zur Vergangenheit eingebaut, eine Erinnerung an das Verlorene, der Verlust kann sich jedoch auf die Zukunft beziehen, auf einen faktischen oder drohenden Verlust von positiven Zukunftserwartungen. Generell gilt: Wenn man Verluste als ein soziales Phänomen betrachtet, werden die Arenen sichtbar, auf denen Auseinandersetzungen darüber stattfinden, was gesellschaftlich als relevanter Verlust zählt. Ob es um Biodiversität, Kriegsopfer, Long Covid oder Modernisierungsverlierer geht – immer stellt sich die Frage: Welcher Verlust erscheint "betrauerbar" (Judith Butler) und welcher nicht? Welcher wird öffentlich sichtbar und welcher bleibt unsichtbar?

Spannungsreiches Verhältnis

Wie mit Verlusten umzugehen ist, stellt sich als eine Herausforderung für alle Gesellschaften und Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart, in Europa und weltweit dar. Vieles spricht jedoch dafür, dass die moderne Gesellschaft in Europa und Nordamerika vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart zu ihnen ein besonderes, spannungsreiches Verhältnis entwickelt. Die westliche Moderne hat ein Problem mit den Verlusten. Entscheidend dafür ist, dass der Modernisierungsprozess von einem Imperativ des Fortschritts angeleitet ist. Ob es um Technik, Wirtschaft, Politik oder die Lebenswelt geht – der Prozess der westlichen Modernisierung wird vom Fortschrittsversprechen geprägt, vom Versprechen einer prinzipiellen Verbesserung der Verhältnisse in der Gegenwart und Zukunft.

"Ein Verlust hängt davon ab, dass er von Individuen, sozialen Gruppen, Institutionen oder auf diskursiven Arenen als ein solcher wahrgenommen wird."

Die positive Zukunftsorientierung prägt das moderne Zeitregime. In einer solchen zukunfts- und fortschrittsorientierten Form der Vergesellschaftung müssen Verlusterfahrungen jedoch als Anomalie erscheinen: Verlusterfahrungen widersprechen dem Fortschrittsdenken, denn im Verlust findet keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung statt. Den erstrebenswerten Zustand hat man hier nicht vor sich, man hat ihn bereits hinter sich. In einem ersten Zugriff erscheint so die Verlustverdrängung für die moderne Gesellschaft typisch und die Verdrängung des Todes als ihr schlagendstes Beispiel: Der Tod als der ultimative Verlust muss der an ständiger Erneuerung und Überbietung orientierten Moderne als "peinliche Tatsache" (Baudrillard) erscheinen, der inkommunikabel scheint und an die soziale Peripherie abgeschoben wird.

Gesellschaftliche Verlustverdrängung?

Der westlichen Moderne pauschal Verlustverdrängung zu attestieren, wäre allerdings zu einfach. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass hier vielmehr eine komplexe Verlustparadoxie prägend wirkt: Denn die Moderne hemmt die Verlusterfahrungen und sie steigert sie zugleich. Auf der einen Seite bemüht sich der Modernisierungsprozess, auftretende Verluste im Namen des Fortschrittversprechens zu reduzieren, zum Beispiel in Form der Medizin oder des Sozialstaats. Zugleich kann man mannigfache Formen der Verlust­invisibilisierung beobachten, in denen Verlusterfahrungen narrativ relativiert oder über bestimmte soziale Mechanismen der öffentlichen Sichtbarkeit entzogen werden: Verluste können so als Kollateralschaden des Fortschritts oder als vorübergehende Unterbrechung interpretiert werden. Es wirken zudem Mechanismen, die ein strukturelles Vergessen oder eine Privatisierung der Verluste fördern.

Auf der anderen Seite steigert der Modernisierungsprozess jedoch die Verluste. Dies macht seine Verlustparadoxie aus: Infolge der Beschleunigung des sozialen Wandels mit seinen ständigen Dynamiken der Aufwertung des Neuen und der Entwertung des Alten, des Mechanismus‘ von Wettbewerb und Konkurrenz mit seinen Gewinnern und Verlierern und nicht zuletzt der staatlichen Gewalt bringt die westliche Moderne Verluste hervor – in großer Zahl. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Gesellschaft entsprechend auch ein breites, äußerst differenziertes Repertoire des doing loss entwickelt: von der ästhetischen Nostalgie bis zur Opferpolitik, von der Psychoanalyse bis zum Versicherungswesen, vom Rückgriff auf die Religion bis zur Risikopolitik.

Verlustbearbeitung in der ­Spätmoderne

Der westliche Modernisierungsprozess hat somit eine Kehrseite: Er lässt sich zugleich als ein komplexes Gefüge des praktischen, narrativen und emotionalen Verlustmanagements, der Invisibilisierung, Potenzierung und Bearbeitung von Verlusten entziffern. In der Spätmoderne seit den 1970er und insbesondere seit den 2010er Jahren spitzt sich die Problematik allerdings zu, denn etwas Entscheidendes ändert sich: Der Fortschrittsimperativ mit seinem Versprechen einer besseren Zukunft wird fragil. Seit Dennis Meadows "Grenzen des Wachstums" sind die Prognosen der Zukunft häufig nicht mehr solche der Perfektionierung, sondern der Stagnation, ja der "Zukunft als Katastrophe" (Eva Horn). Für den genannten spätmodernen Verlustschub gilt konsequenterweise, dass er eine besondere Sichtbarkeit entfaltet.

Denn wenn die Aussicht auf Fortschritt in der Zukunft fragiler wird, schwindet die gesellschaftliche Kraft, Verluste zu relativieren und unsichtbar zu machen. Die Aufgabe der Verlustbearbeitung stellt sich zugleich mit besonderer Dringlichkeit, und das doing loss rückt in der Spätmoderne ins Zentrum der Gesellschaft. Der Populismus, der "take back control" propagiert, und die restorative justice, die sich um eine Anerkennung vergangenen Leids bemüht, die Bewegung des cultural heritage, die Kulturdenkmäler vor Zerstörung bewahren will, und die Politik und Psychologie der Resilienz, die Gesellschaft und Subjekte gegenüber Verlusten widerstandsfähiger machen will, sind spätmoderne Praktiken, in denen auf höchst unterschiedliche Weisen mit Verlustproblemen umgegangen wird. Der Soziologie des Verlusts bietet sich so ein reichhaltiges Feld – aber der Gesellschaft ein Problem, dessen Bearbeitung vor dem Hintergrund der Tradition des Fortschrittsimperativs der westlichen Moderne eine historische Herausforderung darstellt.