Psychologie
Wie wir neue Gewohnheiten lernen können
Forschung & Lehre: Herr Professor Wagner, durch das Coronavirus gibt es neue Regeln im sozialen Umgang: Begrüßungen, Hygiene, Abstand halten im öffentlichen Raum, Kommunikationsformen auf Distanz, soziale Nähe im Allgemeinen. Warum fällt es manchen leichter als anderen von heute auf morgen neue soziale Regeln umzusetzen?
Ulrich Wagner: Die Umsetzung neuer Verhaltensweisen hängt von einer Reihe von Vorbedingungen ab. Dazu gehören unter anderem das Verständnis und die Akzeptanz der neuen normativen Erwartungen. Wenn Menschen die neuen Abstandsregeln unterschiedlich umsetzen, kann das damit zu tun haben, dass sie nicht genau wissen, was sie tun sollen – möglicherweise weil sie die Regeln nicht erreicht haben oder die Kommunikation für sie nicht verständlich ist –, oder, dass sie die neuen Abstandsregeln nicht akzeptieren wollen – vielleicht weil sie die Folgen einer Erkrankung an Covid-19 für sich selbst als nicht so gravierend ansehen.
F&L: Selbst bei bestem Wissen und Willen gelingt die Umstellung nicht immer sofort. Wie können wir die Macht der Gewohnheit überwinden?
Ulrich Wagner: Selbst wenn uns bekannt ist, wie wir mit der aktuellen Gefährdungssituation sinnvoll umgehen, bedeutet das nicht, dass wir ein solches – doch relativ abstraktes – Wissen angemessen umsetzen. Wissen und konkretes Handeln können divergieren. Eineinhalb Meter Abstand zu halten setzt voraus, dass ich abschätzen kann, wie eine Distanz von eineinhalb Metern bei der Begegnung mit anderen ganz konkret aussieht. Außerdem muss ich das Know-how darüber haben, was ich tun soll, wenn mir mehrere Menschen nebeneinander an einer Engstelle entgegenkommen, oder wie ich mich verhalten soll, wenn ich darüber hinaus noch in Eile bin. Neue, vor allem automatisierte Verhaltensweisen setzen Einübung voraus. Daran fehlt es. Was wir brauchen, sind Fernsehkampagnen und Kampagnen in den sozialen Medien, die uns einfach und an Modellen vorführen, wie Abstandsregeln konkret umgesetzt werden können. In den 1970er Jahren gab es den Fernsehspot "Der 7. Sinn" als Sendung zur Verkehrserziehung. Viele fanden das Präsentierte langweilig und trivial. Aber es hat geholfen, wichtige neue Automatismen einzuüben.
F&L: Warum kam es in Pandemie zu irrationalen neuen Verhaltensweisen wie Klopapier-Hamsterkäufen, die ohne explizite Empfehlung getätigt wurden?
Ulrich Wagner: Auch von Nudeln und Konserven gab es das ja. Diese scheinbar unsinnigen Hamsterkäufe sind Folgen von Kontrollverlust. Angekündigt wurden abstrakte Kontaktsperren und Quarantäne. Niemand konnte sich genaues darunter vorstellen – ein Beispiel für schlechte Kommunikation. In solchen Situationen von Unsicherheit tun wir "irgendetwas", was uns den Eindruck der Rückgewinnung von Kontrolle verspricht, auch wenn sich das für andere und im Rückblick als unsinnig erweist.
F&L: Machen es hochgehaltene Werte wie Solidarität einfacher für den Einzelnen, neue Regeln zu akzeptieren, oder sind egoistische Gründe ein besserer Treiber für ein verändertes Verhalten?
Ulrich Wagner: Häufig handeln wir als Egoisten und das funktioniert für uns individuell oft auch gut. Lerntheoretisch betrachtet sind wir meist sehr gut in der Lage, unser Verhalten so einzurichten, dass wir negative Konsequenzen für uns selbst vermeiden. Das gelingt allerdings vor allem dann, wenn die Konsequenzen zeitnah eintreten. Die Situation in der Corona-Pandemie ist aber komplex. Dazu gehört zum einen, dass sich die Folgen der Nichtbeachtung von Abstandsregeln nur manchmal und mit mehreren Tagen Verzögerung zeigen. Auf solche verzögerten Rückmeldungen können wir uns nur schwer einstellen. Dies wird beispielsweise auch im Umgang mit dem Klimawandel deutlich. Hinzu kommt in der Corona-Pandemie, dass die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich krank zu werden, wenn wir uns manchmal nicht an die Abstandsregeln halten, nur gering ist und wir dazu neigen, die Bedeutung negativer, aber unwahrscheinlicher Konsequenzen zu unterschätzen. Zum zweiten sind die Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie wesentlich damit begründet, dass wir mit unserem individuellen Verhalten andere, die besonders Vulnerablen, schützen sollen. Ein solches solidarisches Verhalten zu zeigen, gelingt uns gut, wenn wir uns gegenüber Nahestehenden empathisch verhalten sollen. Es ist aber schwerer umsetzbar, wenn wir Solidarität mit Menschen zeigen sollen, die uns als abstrakte Vulnerable gegenüberstehen. Die aus solchen psychologischen Mechanismen abzuleitenden Konsequenzen sind, dass wir immer wieder die verzögert eintretenden und oft exponentiell eskalierenden Konsequenzen und die dramatischen Auswirkungen für andere – vielleicht auch Nahestehenden – vergegenwärtigen beziehungsweise vor Augen gehalten bekommen müssen.
"Wir müssen die verzögert eintretenden Konsequenzen und die dramatischen Auswirkungen für andere immer wieder vor Augen gehalten bekommen."
F&L: Die einen werfen den Jungen leichtsinnige Corona-Partys vor, die anderen berichten von Älteren, die keinen Abstand halten, weil sie "schon Schlimmeres erlebt haben". Gibt es einen Zusammenhang zwischen Einsicht und Alter?
Ulrich Wagner: Wie gesagt hängt unserer Bereitschaft, den gegenwärtig geforderten Regeln zu folgen, unter anderem davon ab, wie weit wir die normativen Vorgaben verstehen und ihnen zu folgen bereit sind. Eine dritte wichtige Komponente, die unser Verhalten beeinflusst, ist die Bewertung der Konsequenzen des Verhaltens und, die vierte Komponente, die Wahrscheinlichkeit, mit der wir annehmen, dass diese Konsequenzen eintreten. Das biologische Alter kann diese Komponenten beeinflussen. So mögen junge Menschen die Konsequenzen eine Corona-Infektion für sich als weniger schwerwiegend einschätzen und sich deshalb leichtfertig verhalten. Auf ähnliche Weise könnten Alte die Eintretenswahrscheinlichkeit solcher negativen Konsequenzen für sich bagatellisieren mit dem Argument, schon viel Schlimmeres hinter sich gebracht zu haben. Das Lebensalter kann die Prozesse beeinflussen, mit denen Menschen die gegenwärtige Pandemie und die persönlichen und sozialen Konsequenzen ihres eigenen Verhaltens bewerten, die psychologischen Prozesse, die dahinter stehen sind aber vermutlich dieselben. Wieder gilt es, durch geeignete Kommunikation solchen scheinbar entlastenden Bagatellisierungen entgegen zu wirken.
F&L: Einige Bürgerinnen und Bürger denken bereits mehr oder minder laut darüber nach, wie lange sie noch auf Abstand gehen werden. Wann werden wir die Übergangsregeln nicht mehr akzeptieren?
Ulrich Wagner: Die Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialpsychologie an der Ludwigs-Maximilian-Universität in München haben Anfang dieses Monates dazu eine interessante umfangreiche Befragung durchgeführt. Sie finden, dass die Menschen sich durchaus vorstellen können, kurzfristig strengen Bewegungseinschränkungen zu folgen, dass ihnen aber sehr langfristige Maßnahmen große Probleme bereiten. Ein solcher Befund hat Implikationen für politische Entscheidungen. Darüber hinaus ist es extrem wichtig, dass die geforderten Maßnahmen transparent, nachvollziehbar und glaubwürdig erscheinen. Die Debatte um Sinn und Unsinn von Alltagsmasken ist ein Beispiel dafür, wie Politik ihre Glaubwürdigkeit verspielen kann: Zunächst wurde das Tragen von Masken als wenig hilfreich dargestellt, jetzt wird es in fast allen Bundesländern verpflichtend. Damit drängt sich der Verdacht auf, dass solche Empfehlungen nicht wirklich medizinisch begründet sind, sondern über den Mangel an verfügbaren Masken. Das untergräbt Glaubwürdigkeit und die Bereitschaft, solchen Vorgaben zu folgen.
"Die Debatte um Sinn und Unsinn von Alltagsmasken ist ein Beispiel dafür, wie Politik ihre Glaubwürdigkeit verspielen kann."
Unter Glaubwürdigkeits- und Effizienzkriterien extrem wichtig ist die Begründung von Maßnahmen durch seriöse Wissenschaft. Evidence-based policy, das heißt eine Politik, die ihre Entscheidungen auf wissenschaftliche Evidenz beziehen kann, ist effektiver und überzeugender. In der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie beobachten wir aber leider mehr und mehr, dass sich die beratende Epidemiologie auf dünnem Eis bewegen muss, weil sie nämlich selbst nicht über hinreichend zuverlässige Daten verfügt, wie etwa repräsentative Stichproben über Infektionen und deren Verbreitung. Wir bemerken, dass die sich daraus ergebenden wissenschaftlichen Restriktionen auch wesentlich damit zusammen hängen, dass die personellen und sächlichen Voraussetzungen für solche dringend benötigten wissenschaftlichen Studien fehlen, wie hinreichende Testkapazität und -material. Das Ausmaß der Evidenzbasierung einer effektiven Steuerung der Corona-Pandemie geht damit letztlich auch auf politische Versäumnisse im Bereich der Gesundheits- und Daseinsvorsorge zurück. Solche Erkenntnisse werden die Glaubwürdigkeit von politischen Vorgaben und die Bereitschaft, Restriktionen zu akzeptieren, unterminieren.
F&L: Ab wann empfinden wir die andauernde Gefahr der Ansteckung als so normal, dass wir nicht mehr aktiv darüber nachdenken?
Ulrich Wagner: Ich halte die Befürchtung für begründet, dass viele der ständigen Warnungen und Regelungen überdrüssig werden und sich in riskante Interaktionen einlassen. Die Gefahr ist insbesondere deshalb so groß, weil sich individuelle und gesellschaftliche Konsequenzen in Form von individueller Infektion und statistischem Anstieg der Infektionszahlen erst verzögert zeigen. Und die Gefahr des Leichtsinns steigt, je widersprüchlicher die jeweiligen Regelungen in der Bevölkerung ankommen. Das zu verhindern, macht eine dauerhafte überzeugende Warnung und Übung notwendig. Bevor wir wieder zur alten, jetzt so vermissten Normalität werden zurückkehren können, werden wir Zwischenschritte gehen müssen, bei denen körperliche Nähe zwischen Fremden weiterhin vermieden werden muss, wir aber manche wichtige Dinge mit Vorsicht wieder werden aufnehmen können, wie Besuche in Altenheimen, Öffnung von Schulen und Spielplätzen. Auch darin werden wir uns einüben müssen, wir werden aber lernen, auch das einigermaßen erträglich zu finden.