Chinas "soziales Bonitätssystem"
Technologie gegen den Werteverfall?
Chinas politische Entwicklung hält seine Beobachter derzeit in Atem, da Staatspräsident Xi Jinping immer neue Machtbefugnisse anhäuft. Zugleich beschäftigt ein neues Thema die hiesigen Medien: Chinas Versuch, über ein "soziales Bonitätssystem" in Verbindung mit modernster Überwachungstechnologie und künstlicher Intelligenz das Verhalten seiner Bürger bis ins Kleinste zu kontrollieren und zu reglementieren. Zusammengenommen ergibt sich so das Bild des Abdriftens in Richtung eines technologisch hochgerüsteten Totalitarismus.
Zwar ist die chinesische Wirklichkeit noch um einiges von einem solchen Horrorszenario entfernt. Doch diese Medienberichte bedienen alte Stereotype des westlichen Chinabildes und finden so rasche Verbreitung. Was steckt aber hinter den Schlagzeilen um Chinas Aufbau einer hochtechnologisierten Überwachung? Welche Faktoren ermöglichen es, dass die Regierung ihre Pläne anscheinend ohne größere Widerstände einer Gesellschaft aufoktroyieren kann, die sich doch in den vergangenen vier Jahrzehnten der marktwirtschaftlichen Reformen grundlegend verändert und pluralisiert hat?
Modernisierung und moralische Krise
Gerade diese gesellschaftliche Umbruchsituation bildet den Ausgangspunkt für ein Verständnis der jüngeren Entwicklungen. Seit Deng Xiaoping Ende der 1970er Jahre die Reform- und Öffnungspolitik einleitete, ist in China kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Das Land durchlief rasante Prozesse der Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung, eine demographische Transition, Bildungsexpansion und Konsumrevolution – mit anderen Worten eine umfassende Modernisierung.
Einerseits sind diese Veränderungsprozesse aus anderen Gesellschaften bestens bekannt und ihre Folgen wie sozialstrukturelle Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung erwartbar. Andererseits spielen sich diese Umwälzungen in China vor einem gänzlich anderen historischen und politischen Hintergrund ab als in westlichen Vorläufern. Zudem verlaufen sie deutlich schneller, aber – in einem Land von kontinentaler Größe – auch ungleichmäßiger.
Chinas Urbanisierungsrate schoss von unter 20 Prozent zu Beginn der Reformära auf 57 Prozent Ende 2016. Diese schnelle Transformation verdeutlicht die sogenannte "gestauchte Modernisierung" Chinas. Aber hinter diesen Zahlen verbergen sich enorme regionale Unterschiede: Urbanisierungsraten auf Provinzebene liegen zwischen 30 und 67 Prozent. Bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf der lokalen Bevölkerung liegt die Metropole Beijing beim 3,8-fachen der Provinz Yunnan. Das entspricht dem Abstand des deutschen Wertes von dem Costa Ricas.
Chinas durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt hat sich seit Beginn der Reformen um ein Jahrzehnt auf 76 Jahre erhöht. Die Differenz zwischen dem Spitzenreiter Shanghai (83 Jahre) und Tibet oder Yunnan (64 beziehungsweise 70 Jahre) entspricht der Differenz zwischen dem deutschen Durchschnitt von 81 Jahren und den Daten von Angola beziehungsweise Laos. So bietet Chinas Gesellschaft ein kaleidoskopartiges Bild, in dem augenscheinliche Widersprüche und Paradoxien der Normalfall sind.
Verständlicherweise haben diese dynamischen aber ungleichzeitigen Entwicklungen dazu geführt, dass die Gesellschaft nach Orientierung sucht und der soziale Zusammenhalt stärker denn je in Frage gestellt wird. In der chinesischen Gesellschaft hat sich das Gefühl einer moralischen Krise verbreitet, die als Ursache der immer wieder auftretenden Skandale um Korruption, manipulierte Lebensmittel oder Wirtschaftsbetrug angesehen wird. Eine solche individualisierende Deutung wird auch von Regierungsseite unterstützt, da sie von systemischen Gründen für diese sozialen Übel ablenkt.
Ob es um die gesellschaftliche Moral in China tatsächlich so viel schlechter bestellt ist als in anderen Ländern, kann vor dem Hintergrund soziologischer und anthropologischer Studien bezweifelt werden. Gerade die wachsenden Mittelschichten legen großes Augenmerk darauf, ihre Kinder zu ethisch verantwortungsvoll handelnden Subjekten zu erziehen. Aber sie tun dies, gerade weil das gesellschaftliche Umfeld als krisenhaft wahrgenommen wird.
In diese Richtung weisen standardisierte Befragungen: Auf die entsprechende Frage des World Values Survey antworten in China insgesamt 77 Prozent, dass sie Menschen, denen sie zum ersten Mal begegnen, "wenig" bis "gar kein Vertrauen" entgegenbringen. Für Deutschland liegt der Wert zehn Prozentpunkte darunter. An dieses diffuse Gefühl der Verunsicherung knüpft der chinesische Parteistaat an, wenn er sein soziales Bonitätssystem propagiert.
"Ein zweiter Personalausweis"
Das angedachte System soll in den Jahren 2014 bis 2020 in einer Reihe von Pilotprojekten in einzelnen Städten erprobt und dann vereinheitlicht werden. Zugleich laufen ähnliche Bestrebungen kommerzieller Betreiber. Die beiden Internetgiganten Alibaba und Tencent, welche mit ihren digitalen und mobilen Zahlungssystemen den Markt dominieren, bieten mit "Sesame Credit" beziehungsweise "Tencent Credit" jeweils eigene Bewertungssysteme für die Nutzer ihrer Zahlungsplattformen an. Bessere Scores erleichtern beispielsweise den Zugang zu Krediten oder erlauben die kautionsfreie Anmietung von Fahrrädern, Autos oder Wohnungen.
Obwohl die genauen Methoden, wie die Scores ermittelt werden, nicht transparent sind, lassen sich diese Programme als Mischung aus Schufa und Treuepunkten beschreiben: Es gehen also einerseits Daten über die rechtzeitige Bezahlung von Rechnungen ein, aber auch ein höheres Transaktionsvolumen, genauere Angaben zur eigenen Person sowie das persönliche soziale Netzwerk beeinflussen den Punktestand positiv. Die Art der Einkäufe oder Personalangaben soll hingegen ohne Einfluss sein. Wichtig ist nur, dass man Beschäftigungsstatus, Bildungsstand und Konsumgewohnheiten verrät, damit das Unternehmen personalisierte Werbung verschicken kann.
"Naming and shaming gehören schon lange zum Repertoire der sozialen Kontrolle in China."
Anders verhält es sich mit den staatlichen Pilotprojekten. Hier wird gezielt Einfluss auf das Verhalten der Bevölkerung ausgeübt, indem sozial und politisch unliebsames Verhalten sanktioniert wird. Die Beispiele aus den Versuchsregionen klingen teils drastisch: Automatische Identifikation über Gesichtserkennung wird für den großflächigen Einsatz erprobt. Wenn ein Schuldner nicht pünktlich bezahlt, erhalten Anrufer, die seine Nummer wählen, seinen Schuldenstand mitgeteilt. Naming and shaming gehören schon lange zum Repertoire der sozialen Kontrolle in China.
Daneben drohen aber auch handfeste Konsequenzen: So berichten staatliche Medien, dass bis Ende April 2018 insgesamt über 111 Millionen mal Personen, die auf einer landesweiten "schwarzen Liste" unzuverlässiger Schuldner stehen, der Kauf eines Flugtickets verweigert wurde.
In über 425.000 Fällen wurde solchen "Vertrauensunwürdigen" die Fahrt mit einem Hochgeschwindigkeitszug verweigert. Diesen Formen der Sanktionen scheinen vergleichsweise belastbare und objektive Kriterien wie Kredithistorie oder (bei Unternehmen) Verstöße gegen Umweltrichtlinien zugrunde zu liegen. Dennoch ist es natürlich nicht ausgeschlossen, sondern läge auf der derzeitigen Parteilinie, dass auch politisches Wohlverhalten künftig über solche Anreize und Sanktionen erzwungen würde. Die Rede ist in diesem Zusammenhang davon, dass die soziale Kreditwürdigkeit wie ein "zweiter Personalausweis" zum Einsatz kommen soll. Am Ende sollen alle Daten in übergreifenden Datenbanken gesammelt werden, die sowohl alle Bürger als auch Unternehmen erfassen.
Noch ist unklar, wie das System letztendlich umgesetzt werden soll. Neben Tencent und Alibaba arbeiten sechs weitere Unternehmen, die eine Lizenz zur Erstellung von Scoringsystemen erhalten haben, an Pilotprojekten. So erprobt Tencent bereits die Nutzung seiner Plattform WeChat als Personalausweisersatz. Es ist anzunehmen, dass diese Projekte später als technische Basis für das staatliche Bonitätssystem genutzt werden. Parallel entwickelt eine Vielzahl kleiner Startups Schlüsseltechnologien, wie automatische Gesichtserkennung, Deep Learning und künstliche Intelligenz, welche eine lückenlose Überwachung ermöglichen sollen.
Für viele dieser Überwachungstechnologien dient die Minderheitenregion Xinjiang als informelles Testgebiet. Die dort beheimatete ethnische Gruppe der Uiguren, die überwiegend islamischen Glaubens sind, wird mit einem immer dichteren Netzwerk aus Online- und Offline-Kontrollen überzogen. In Xinjiangs Hauptstadt Urumqi wurde es 2017 sogar verpflichtend gemacht, eine Anwendung auf jedem Smartphone zu installieren, welche islamistische oder separatistische Inhalte an den Sicherheitsapparat meldet.
Gegenüber der Mehrheitsbevölkerung präsentieren sich diese Neuerungen wohlwollender. So soll ein gesondertes Bonitätssystem, das sich an die Jugend richtet, jungen Menschen mit guten Bewertungen nicht nur dabei helfen, Kredite für eigene Geschäftsgründungen zu erhalten, sondern auch Ehepartner zu finden.
Transparente Bürger
Die Reaktion der chinesischen Gesellschaft auf diese staatlichen Bemühungen, transparente Bürger zu schaffen, ist derzeit geprägt von Ahnungslosigkeit und Arglosigkeit, aber auch von grundsätzlicher Unterstützung. Zum ersten ist die Tragweite der angestoßenen Neuerungen vielen Bürgern schlicht nicht bekannt. Die lokalen Pilotversuche betreffen derzeit 37 Städte und damit nur einen kleinen Ausschnitt der Bevölkerung. Das Echo in den staatlich kontrollierten Medien ist positiv und die Systeme werden als wirksame technologische Lösung für den Vertrauensschwund und Werteverfall propagiert.
Zudem sind Chinesen in vielerlei Hinsicht Early Adopter, die technischen Innovationen offen gegenüberstehen. Smartphones, mobile Zahlungssysteme oder auch die sogenannte Sharing Economy konnten sich im Vergleich zu Deutschland rasend schnell durchsetzen. Dies begünstigt den Umstand, dass das soziale Bonitätssystem erst einmal unkritisch gesehen wird.
Zum zweiten bringt die chinesische Öffentlichkeit ihrer Zentralregierung grundsätzlich großes Vertrauen entgegen. Sofern Probleme angesprochen werden, betreffen sie entweder die kommerziellen Ratingprogramme oder beschränken sich auf technische Schwierigkeiten. Dies entspricht dem Befund des World Values Survey, dass chinesische Befragte zu 85 Prozent angeben, der nationalen Regierung (sehr) zu vertrauen, wohingegen in Deutschland der entsprechende Wert bei nur 44 Prozent liegt.
Auch wenn bei solchen Befragungen die soziale Erwünschtheit der Antworten eine Rolle spielen mag, erklärt dies nicht eine Differenz dieser Größenordnung. Kein Wunder also, wenn Medien und Öffentlichkeit in Deutschland mit Unverständnis auf die Arglosigkeit der chinesischen Bevölkerung schauen, die sich um die Datensammelwut ihrer Regierung bislang wenig Sorgen zu machen scheint.
Drittens muss aber auch anerkannt werden, dass die verbreitete Sorge um einen Werteverfall in China den gefühlten Bedarf nach solchen Maßnahmen zur Wiederherstellung des gesellschaftlichen Vertrauens wachsen lässt. Die in China so wahrgenommene moralische Krise ist selbst ein Produkt der oben skizzierten sozialen Umbrüche. Man muss also über das eingangs angesprochene Narrativ eines Abdriftens in totalitäre Zustände hinausgehen, um den Hintergrund des Bonitätssystems adäquat zu verstehen.
Aus Forschung & Lehre 6/18
Titelthema "China"
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