Symbolbild für die Illustration der Zeit: Glaskugeln und Wecker, die sich darin spiegeln
mauritius images / Romans Klevcovs / Alamy

Zeitkristalle
Auf den Spuren von Raum und Zeit

Die Naturgesetze enthalten viele Parallelen für Raum und Zeit. Physiker erforschen derzeit deren Fähigkeit, Kristalle zu bilden. Ein Gespräch.

Von Claudia Krapp 07.09.2021

Forschung & Lehre: Herr Keßler, Herr Hemmerich, Sie erforschen zusammen sogenannte Zeitkristalle. Wie unterscheiden sich diese von "normalen" Kristallen?

Hans Keßler: "Normale" Kristalle, also kristalline Festkörper, wie zum Beispiel Salz oder Eis bilden periodische Strukturen im Raum aus. Dabei wiederholen sich ihre Bausteine, die Atome, nach einem festen räumlichen Abstand. Dieser Abstand wird Gitterkonstante genannt und ist eine intrinsische Größe des Systems. Sie verändert sich nur wenig unter dem Einfluss der äußeren Bedingungen, wie zum Beispiel Druck und Temperatur. Zeitkristalle sind periodische Strukturen in der Zeit, das heißt ihr Zustand wiederholt sich mit einer intrinsischen zeitlichen Periode. Im Vergleich zu einem gewöhnlichen Pendel, ist das Besondere an Zeitkristallen, dass es sich um Vielteilchenzustände handelt, bei denen sich durch die Wechselwirkung der einzelenen Teilchen untereinander spontan eine stabile kollektive Oszillation ausbildet ohne dass die Teilchen in ungeordneter Weise Energie aufnehmen und das ganze System aufheizt. Bei der Entstehung eines "normalen" Kristalls, etwa Eis durch Gefrieren von Wasser, wird die kontinuierliche Translations-Symmetrie des Wassers, spontan gebrochen und es bildet sich die für einen Kristall charakteristische diskrete räumliche Translations-Symmetrie aus. Das bedeutet, dass Fluktuationen entscheiden, wo das erste Atom sitzt und von dort setzt sich der Kristall dann periodisch in alle Raumrichtungen fort. Ähnliches passiert bei der Entstehung eines Zeitkristalls. Analog zum Festkörperkristall bestimmen Quanten-Fluktuationen, wann die kollektive Oszillation startet, also welche Zeitphase sie hat. Auf diese Weise wird spontan die Translations-Symmetrie auf der Zeitachse gebrochen.

Portraitfoto von Prof. Dr. Andreas Hemmerich
Prof. Dr. Andreas Hemmerich leitet die Arbeitsgruppe "Atom Optik" am Institut für Laser-Physik an der Universität Hamburg. Andreas Hemmerich

F&L: Um Zeitkristalle gibt es einen regelrechten innerfachlichen Hype. Warum ist dieser Forschungsgegenstand so attraktiv für Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen?

Andreas Hemmerich: Die Bedeutung einer physikalischen Entwicklung kann und sollte man nicht abschließend beurteilen, solange die Entwicklung in vollem Gange ist. Zeitkristalle, soviel kann man jetzt schon sagen, sind mindestens eine hochinteressante neue Form von dynamischen Vielteilchenzuständen, bei denen die allgegenwärtigen Regeln der gewöhnlichen Thermalisierung aufgrund von komplexen nicht-linearen Vielteilchen-Wechselwirkungen außer Kraft gesetzt sind. Das ist ein äußerst spannendes Szenario für die Grundlagenforschung. Ob es den Zeitkristallen gelingt, mehr als ein kurzfristig aufregendes Thema der Grundlagenforschung zu werden oder aber zu bedeutenden Anwendungen zu führen und dadurch weitergehende Bedeutung zu erlangen, ist gegenwärtig nicht entscheidbar.

F&L: Inwieweit kann die physikalische Forschung die Existenz von Zeitkristallen schon nachweisen?

Hans Keßler: Ein gewöhnlicher Kristall befindet sich im Grundzustand des Systems, das heißt bei seinem Entstehen senkt sich die Energie ab durch Ausbildung einer periodischen Struktur. Frank Wilczek hat sich 2012 die Frage gestellt, ob es Systeme in der Natur gibt, welche ein solches Verhalten auf der Zeitachse zeigen, das heißt in ihrem Grundzustand spontan zu oszillieren. Theoretiker haben jedoch sehr bald gezeigt, das dies in der Natur grundsätzlich nicht vorkommen kann. Allerdings kann es einen Zeitkristall in einem stabilen angeregten Zustand geben. Ein solches Szenario kann sich in getriebenen Systemen ausbilden. Im zeitkristallinen Zustand wird dem System trotz des externen Treibens netto keine Energie zugeführt, im Gegensatz zu normalen Zuständen getriebener Systeme, die sich durch Energieaufnahme erhitzen. Für periodisch getriebene Systeme wurde dies 2017 in den Forschungsgruppen um Mikail Lukin in Havard und Christopher Monroe in Maryland erstmals realisiert. Da auf Grund technischer Limitierungen Dissipation in jedem System präsent ist, können isolierte Quantensysteme nicht in beliebiger Größe realisiert werden. Deswegen benötigen die bisher beobachteten Zeitkristalle eine gute Isolierung von ihrer Umwelt, um das Aufheizen und somit "Schmelzen" des Zeitkristalls zu verhindern.

"Die bisher beobachteten Zeitkristalle benötigen eine gute Isolierung, um das 'Schmelzen' zu verhindern."

Am Institut für Laser-Physik der Universität Hamburg haben wir vor Kurzem einen neuen Typ von Zeitkristall demonstriert, der die in den bisherigen Beispielen störende Dissipation zu einem konstituierenden Element macht, welches die kollektive Oszillation stabilisiert. Damit sind Zeitkristalle nun auch in sogenannten offenen Systemen möglich, bei denen zwar ein Energiefluss durch das System stattfindet, jedoch ohne dass diese Energie teilweise im System zurückbleibt, was das System aufheizen würde, und ohne dass die Unordnung, also die Entropie, zunimmt.

Portraitfoto von Dr. Hans Keßler
Dr. Hans Keßler forscht am Institut für Laser-Physik der Universität Hamburg zu Zeitkristallen. Hans Keßler

F&L: Sie sind nicht die einzige Arbeitsgruppe, die derzeit Zeitkristalle erforscht. Wie unterscheidet sich Ihr Nachweis von anderen Herangehensweisen, etwa dem Nachweis der Forschenden am Max-Planck-Institut (MPI) für Intelligente Systeme in Stuttgart?

Hans Keßler: Der offensichtlichste Unterschied zwischen den Experimenten am MPI und unseren ist, dass es sich um ausgeprägt verschiedene physikalische Systeme handelt. Das MPI Experiment verwendet ein makroskopisches Festkörpersystem bei Zimmertemperatur. Unser System besteht aus kondensierten Atomen praktisch am absoluten Temperaturnullpunkt, die zwischen zwei extrem reflektierende Spiegel gebracht werden. Infolgedessen sind die experimentellen Methoden sehr verschieden. Das MPI Experiment verwendet eine Form von Röntgen-Spektroskopie um die magnetischen Strukturen direkt abzubilden. In unserem Experiment nehmen wir Impulsspektren auf und analysieren das Lichtfeld, welches sich während der Zeitkristalldynamik zwischen den Spiegeln aufbaut. Der fundamentale Charakter unseres System ermöglicht eine theoretische "Ab Initio" Beschreibung. Dadurch können wir die beobachtete Dynamik mit hoher Präzision und Vollständigkeit auf fundamentaler Ebene verstehen. So können wir zum Beispiel den für Zeitkristalldynamik typischen spontanen Charakter der Zeittranslationssymmetriebrechung direkt zeigen.

F&L: Mit welchen Durchbrüchen rechnen Sie in der Physik als nächstes?

Andreas Hemmerich: Als Physikerinnen und Physiker haben wir im Allgemeinen wenig Begabung zum Orakel. Eine Diskussion, was man sich in Zukunft von der Physik im ganzen und allgemein erhoffen darf, führt schnell aufs Glatteis. Möglicherweise gelingt es in ein paar Jahren, exotherm Kernfusion zu betreiben. Unsere Kenntnisse des Universum werden wahrscheinlich deutlich wachsen durch die neuen Gravitationsinterferometer. Vielleicht wird es tatsächlich einen Quantencomputer geben, der etwas Nützliches bewirken kann.

"Eventuell könnte es Anwendungen von Zeitkristallen in der Metrologie beim Bau ultra-präziser Uhren geben."

Was die Zeitkristalle angeht, könnte es eventuell Anwendungen in der Metrologie beim Bau ultra-präziser Uhren geben. In unserer Forschungsgruppe werden wir hoffentlich demnächst einen kontinuierlichen Zeitkristall demonstrieren, bei dem eine kontinuierliche Zeittranslationssymmetrie spontan gebrochen wird. Die Aussichten auf Letzteres stehen günstig.