Konzept von mRNA-Impfstoffen auf Holzwürfeln
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Medizingeschichte
"Noch nie war eine Impfung so simpel wie diese"

Viele der Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 beruhen auf mRNA. Diese Impftechnik ist historisch neu, schreibt aber eine jahrehundertelange Entwicklung fort.

Von Philipp Osten 02.02.2021

Seit Anfang Februar bitten Städte und Gemeinden die Generation der über 80 Jährigen in Fußballstadien, Messehallen, Konzerthäuser, Eispaläste und Theater. Dort bekommen sie Fett-Tröpfchen in die Oberarmmuskeln gespritzt, die Messenger-RNA enthalten. Mit dieser Bauanleitung stellt der Körper kurze Aminosäureketten her, die einen kleinen Teil der äußeren Struktur des SARS-CoV2 Virus abbilden – idealerweise genau jenes Protein, mit dem sich die Viren Zugang zu ihren Wirtszellen verschaffen, das Spike-Protein. Gegen dieses Oberflächenprotein induziert die eingeimpfte mRNA in den Zellen der Impflinge durch die Bildung eines kleinen Teilstücks auch die Bildung von passgenauen Gegenstücken. Diese Antikörper sollen sich über das Spike-Protein des Virus legen.

Noch nie war – auf molekularer Ebene betrachtet – eine Impfung so simpel wie diese. Es mussten keine gefährlichen Viren abgeschwächt werden, wie bei Impfstoffen gegen die Kinderlähmung, oder das Rückenmark tollwütiger Hunde getrocknet werden. Es mussten keine Krankheiten von Kühen auf den Menschen übertragen werden, wie bei der Pocken- oder Tuberkuloseimpfung. Und es ist auch nicht nötig Rinderherden zu halten, die in ihrem Serum Antikörper erzeugen, wie bei dem gegen Diphterietoxin gerichteten Serum. Bisher beruhen nahezu alle Impfungen auf dem Plan, im menschlichen oder tierischen Organismus die Bildung von Antikörpern hervorzurufen, die Viren oder die Toxine von Bakterien neutralisieren. Die mRNA-Impfstoffe erreichen das auf direktem Weg. Nur die allerletzten Schritte der Antikörperentwicklung müssen die Zellen der Geimpften selbst leisten.

Seit wenigen Jahren können gut bestückte Labors mRNA jedweden Zuschnitts innerhalb weniger Stunden modellieren. Das weckt Hoffnungen auf eine Vielzahl neuer Therapien. Mit viel Glück könnten bald sogar Dendriten von Tumorzellen zum Ziel individuell designter, genau auf einzelne Krebszellen angesetzter mRNA werden.

Kolonialismus und die Immunisierung mit Pocken

Keine Technik hat die Bevölkerungsentwicklung so nachhaltig beeinflusst, wie das Impfen. Doch das Konzept des Impfens stammt nicht aus der akademischen Medizin.

"Keine Technik hat die Bevölkerungsentwicklung so nachhaltig beeinflusst, wie das Impfen."

Die Pocken waren der Skandal des 18 Jahrhunderts. Ihr Erreger war so ansteckend, dass sich kaum ein Mensch der Infektion entziehen konnte, wo Postrouten Städte und Dörfer miteinander verbanden.

Jeder Fünfte starb an den Pocken. Wer überlebte war ein Leben lang immun. Die Krankheit kam, sobald genügend Kinder geboren waren, um dem Contagium neuer Ausbreitung zu bieten. Bald zogen die Pocken mit tödlicher Regelmäßigkeit alle fünf bis zehn Jahre durch das Land, nahmen 20 Prozent der Kinder mit und hinterließen bleibende Narben bei den Überlebenden.

Im Norden Indiens, in China, in vielen muslimischen Ländern und auf dem afrikanischen Kontinent existierte seit noch unbekannter Zeit eine gefährliche Praxis, den Pocken wirksam vorzubeugen. Die mit Sekret gefüllten Bläschen der Pockenkranken wurden aufgestochen, die klare Flüssigkeit getrocknet und noch nicht Erkrankten unter die Haut geritzt. Peinlich wurde darauf geachtet, dass die Einstichstelle luftdicht verbunden wurde, und die Impflinge streng von allen noch nicht infizierten Menschen isoliert wurden. Nach knapp einer Woche brachen die Pocken bei den so Behandelten aus – mal auf dem Ort der Einstichstelle begrenzt, oft den ganzen Körper bedeckend. Zwei Prozent starben nach der Prozedur.

Die Londoner Schriftstellerin Mary Wortley Montagu war als Kind an den Pocken erkrankt, ihr Bruder daran gestorben. Als ihr Ehemann britischer Botschafter in Konstantinopel wurde lernte sie bei einheimischen Frauen die Impfung mit Menschenpocken kennen und ließ ihre eigenen Kinder behandeln. Sie sorgte dafür, dass die Royal Society in London über das Verfahren diskutierte. Davon las im damals noch britisch besetzten Boston der puritanische Geistliche Cotton Mather. Der Sklavenhalter "besaß" einen aus Afrika verschleppten Mann, den er nach dem Sklaven des biblischen Paulus, "Onesimus" genannt hatte. Er hatte Mather 1706 berichtet, gegen die Pocken geimpft zu sein. Als 1721 eine Pockenepidemie ausbrach, wurde das koloniale Boston zum Experimentierfeld: Erst wurden Sklaven als Versuchspersonen benutzt, dann Kinder. Variolation nannten die Wissenschaftler die Immunisierung mit Menschenpocken. Zum Schutz der eigenen Truppen impften die Briten ab 1790 auch in ihren indischen Kolonien, um zu ihrer Überraschung festzustellen, dass die Praxis dort längst etabliert war. Auch in vielen europäischen Adelshäusern wurde die Variolation durchgeführt.

Mit Kuhpocken gegen Menschenpocken

Bereits um 1775 berichteten medizinische Fachzeitschriften, dass Menschen mit Melker-Knötchen an den Fingern, die sich beim Melken von Kühen mit Kuhpocken infiziert hatten, nicht an Menschenpocken erkrankten. 1796 wagte der englische Arzt Edward Jenner ein Experiment. Er infizierte nach der von der Variolation bekannten Methode den Sohn seines Gärtners mit Kuhpocken. Es bildete sich lediglich eine einzelne Pocke an der Einstichstelle. Kurz darauf infizierte er den Jungen mit echten Menschenpocken. Das Kind erkrankte nicht. Vaccination nannte er die neue Methode, nach "vacca", lateinisch für die Kuh.

Im Jahr 1807 führten Bayern und Hessen als erste Staaten der Erde die Kuhpockenimpfung für all ihre Bürger verpflichtend ein. Für das Nation-Building Bayerns, das im Zuge der napoleonischen Kriege sein Territorium nahezu verdoppelt hatte, spielte die Impfpflicht eine zentrale Rolle. Impflisten wurden aus Kirchenbüchern übertragen. Aus ihnen sollten bald die ersten Melderegister Europas werden. Die Kuhpockenimpfung wurde ein Symbol des aufgeklärten Absolutismus. Der Erfassung der Einwohner ging ihre Medikalisierung voran. Impfärzte waren für den größten Teil der Bevölkerung die einzigen Mediziner die sie in ihrem Leben zu Gesicht bekamen.

Im gerade erst zum Königreich erhobenen Württemberg setzte das Medizinal-Kollegium auf Impfprämien. Der Baseler Volkskundler Eberhard Wolff hat die Mediengeschichte der Kampagnen nachgezeichnet: Sie sind auch deshalb bemerkenswert, weil der größte Teil der Bevölkerung in Deutschland nicht lesen konnte. Das Innenministerium wies die Kirchen an, in Nützlichkeitspredigten zur Impfung aufzurufen.

"Das Innenministerium wies die Kirchen an, in Nützlichkeitspredigten zur Impfung aufzurufen."

Als die Stadt Paris 1812 an geimpfte Bürger Münzen ausgab, in die eine Kuh und ein Impfbesteck geprägt waren, kursierte überall in Europa eine Karikatur, die eine nackte, mit Pocken übersäte Frau auf einem Ochsenkarren zeigte. Impfgegner geißelten die Technik, Pockenlymphe von einem Tier auf den Menschen zu übertragen, als Sodomie. In den 1850er Jahren, noch bevor jüdische Ärzte an deutschen Universitäten Professoren werden konnten, lud der schwäbische Arzt und Impfgegner Gottlob Nittinger die Impfdebatte mit antisemitischen Ressentiments auf. Als Götzendienst am "Kalb der Juden" bezeichnete er die Vaccination. Pietisten protestierten gegen den Eingriff in die göttliche Schöpfung, den sie einen blasphemischen Übergriff des Staates auf den Körper betrachteten.

90 Jahre nach der Kuhpockenimpfung begann mit dem Siegeszug chemischer Färbemethoden, der Mikroskopie der Bakteriologie ein grundlegend neues Verständnis der Immunologie. Im kaiserlichen Gesundheitsamt ebenso wie in Forschungsinstitutionen in London und Paris begannen Ärzte und Chemiker um 1890 infiziertes Gewebe und Bakterienkulturen durch Trocknung oder durch die Abtötung mit Alkohol derart zu verändern, dass die Erreger ihre krankmachende Wirkung verloren, aber im Tierversuch dennoch Immunität hervorriefen.

Impfungen wandelten sich mit der Verbreitung der Krankheiten

Die Krankheiten, gegen die Militärärzte im Ersten Weltkrieg überwiegend impften, waren Cholera und Typhus. Im Abstand von drei Monaten erhielten Soldaten Spritzen mit abgetöteten Erregern der Magen-Darm-Erkrankungen. Da beide Krankheiten unter gegenwärtigen Bedingungen selten vorkommen und durch die Substitution von Flüssigkeit gut behandelbar sind, spielen diese ehemals häufigsten Impfungen heute keine Rolle mehr.

Einen bemerkenswerten Sonderfall stellten die Masern dar. Er verdeutlicht die Rolle von Vorerkrankungen für die Todesrate bei Infektionen. Heute stirbt jeder fünfhundertste Infizierte an den Masern. Vor 100 Jahren war es noch jeder Fünfzigste. Das lag am schlechten allgemeinen Gesundheitszustand. Ein Drittel der Kinder in deutschen Großstädten litt an der Mangelkrankheit Rachitis. Stimmen die Medizinalstatistiken vom Anfang des 20. Jahrhunderts, dann starben in den wohlhabenden Vierteln deutscher Großstädte zwanzigmal weniger Kinder an den Masern als in den Elendsquartieren.

In Kliniken steckten Masernkranke ihre Mitpatienten fast zwangsläufig an, was oft ein Todesurteil war. Ein Assistent der Münchner Kinderklinik suchte einen Ausweg aus dem Dilemma. Er wusste, dass das Serum von Typhuspatienten gegen die Durchfallerkrankung immun machte. Französische Ärzte hatten das in Menschenversuchen in den algerischen Kolonien nachgewiesen. Der 32-jährige Rudolf Degkwitz adaptierte die Methode. Er nahm gerade genesenen Masernpatienten auf seiner Station Blut ab, und spritzte es den Neuankömmlingen der Kinderklinik in den Gesäßmuskel. Das Rekonvaleszenten-Serum schütze für einige Wochen vor den Masern. Degkwitz entwickelte das Konzept zur Masernimpfung weiter. Seine Forschung sollte auch ihm das Leben retten. Als er, 1943 als Hamburger Ordinarius von den Nationalsozialisten des Defätismus bezichtigt, zum Tode verurteilt werden sollte, sah Volksgerichtshofpräsident Roland Freisler aus propagandistischen Gründen davon ab, den Erfinder der Masernimpfung hinrichten zu lassen.

Die vor 100 Jahren entwickelte Methode, Erreger, gegen die es noch keine Impfung gibt, mit Rekonvaleszenten-Serum zu neutralisieren, ist in verzweifelten Lagen immer wieder hervorgeholt worden. Auch in der Corona-Pandemie kam diese Technik zum Einsatz, bevor die ersten Impfstoffe zugelassen waren. Im März 2020 landete ein chinesisches Flugzeug in Bergamo. An Bord befand sich das Serum genesener Corona-Patienten.