Frau mit indischem Hintergrund steht mit Smatphone vor einem Whiteboard
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Kulturwissenschaften
Warum deutsche Indienbilder täuschen

"Indien" ist das Titelthema der aktuellen Ausgabe von Forschung & Lehre. Unsere Autorin hat sich mit typischen Vorstellungen von dem Land beschäftigt.

Von Carmen Brandt 30.03.2019

Indien übertrifft Europa an Heterogenität in jeglicher Hinsicht: mehr Sprachen, Schriften, Ethnien und Religionen – nebeneinander, miteinander und manchmal auch gegeneinander. Dennoch scheinen viele Menschen in Deutschland bei Indien von einem homogenen Gebilde auszugehen.

Viele Menschen in Deutschland assoziieren Indien mit einem von drei weit verbreiteten Indienbilder: dem romantischen: Ayurveda, Mystizismus und Yoga; dem grausamen: Gruppenvergewaltigungen, rechtlose Witwen und Unberührbare; oder dem profitablen: IT-Kräfte, Backoffice und wachsender Absatzmarkt. Diese Bilder haben die lange seit der Spätantike vorherrschende Idee des Ex oriente lux – so kommen noch gemäß Matthias Claudius (1740-1815) in "Eine asiatische Vorlesung" Weisheit und Wissenschaft aus Asien – weitgehend verdrängt.

Dass heute stereotype Indienbilder in der deutschen Öffentlichkeit dominieren, verdeutlicht, dass Indien mindestens seit der frühen Neuzeit hierzulande noch immer Sehnsüchte, Ängste oder Hoffnungen hervorzurufen scheint, wie es kaum ein anderes Land vermag. Bezeichnend für die noch immer fehlende differenzierte Auseinandersetzung mit "Indien" in Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist zudem die Tatsache, dass oftmals nicht zwischen dem 1947 gegründeten Staat Indien und dem indischen Subkontinent, der nie eine geopolitische Entität "Indien" gebildet hat, unterschieden wird. Nur zögerlich setzt sich der Begriff "Südasien" für diese Region, die aus mehreren Staaten besteht, durch.

Die deutsche Uninformiertheit schien allerdings bis zur jüngsten Vergangenheit kein Problem zu sein, da tatsächliche Interaktionen mit dieser Region nur einer Minderheit vorbehalten waren. Aber der jetzige weltpolitische Bedeutungszuwachs Indiens und seine Liberalisierung mitsamt diversen Hoffnungen – auch in der deutschen Wirtschaft – machen eine differenziertere Betrachtungsweise unumgänglich.

Wir wählen unser Indienbild

Anders als für Großbritannien, das weite Teile Südasiens kolonisiert hatte und heute einen südasiatischen Bevölkerungsanteil von cirka fünf Prozent hat, bestand für die deutsche Bevölkerung und Politik früher wenig Notwendigkeit für ein den Tatsachen entsprechendes Indienbild.

Wie jedoch heute jedem einschlägige Informationen leicht zugänglich sind, um sich selbst eine Meinung zu bilden, hatten auch Vertreter des ersten dominanten Indienbildes, des romantischen, Zugang zu Informationen, die ihrem präferierten Indienbild widersprachen. So wusste Johann Gottfried Herder (1744-1803) sehr wohl von der Diskriminierung der Unberührbaren und dem Phänomen der Witwenverbrennungen, was ihn allerdings nicht davon abhielt, in seinem Gedicht "Indien" für diese Region zu schwärmen:

Sanftes Gefühl der Indier gab dem Schalle zum Führer
Nicht die gröbere Luft, gab ihm den Aether zum Reich.
Er nur bildet den Ton zur zarten himmlischen Stimme,
Die die Empfindungen spricht, die die Empfindungen weckt,
Und entführet der gröberen Luft die Seelen der Menschen
In ein einsam Gebiet, in das ätherische Land,
Wo nicht rasselt der Wagen, der jetzt den Wolken entschwebet,
Wo nur häusliches Glück bildet der Götter Genuß,
Wo Sakontala lebt mit ihrem entschwundenen Knaben,
Wo Duschmanta sie neu, neu von den Göttern empfängt.
Sey mir gegrüßt, o heiliges Land, und Du Führer der Töne,
Stimme des Herzens, erheb‘ oft mich im Aether dahin!

  • Das romantische Indienbild

Die Begeisterung für dieses imaginierte Indien, die Ende des 18. Jahrhunderts durch die Übersetzung des altindischen Dramas "Shakuntala" unter deutschen Intellektuellen ausgelöst wurde, stand in Kontrast zu den gesellschaftlichen Umbrüchen jener Zeit. Das rationale Denken der Aufklärung, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft, der Beginn der Industrialisierung und die Französische Revolution führten bei vielen deutschen Literaten der sogenannten Romantik zu einer Art Weltflucht und Sehnsucht nach mehr Harmonie zwischen Natur und Mensch, längst vergessenem Heldentum und Spiritualität.

Das unbekannte alte Indien bot dafür einigen eine ideale Projektionsfläche. Dieser Zeitgeist hat zumindest auch den Blick auf das aus ursprünglich wohl eher sprachwissenschaftlichen Impulsen heraus zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründete Fach Indologie beeinflusst.

Man mag über den Einfluss der Romantik streiten, aber es ist unzweifelhaft, dass die Indologie sich seit Anbeginn vornehmlich dem Studium des indischen Altertums gewidmet hat. Der indische Germanist Anil Bhatti warf diesem Fach 1987 gar eine "Verweigerung der Gleichzeitigkeit" Indiens und die Begünstigung des Entstehens eines einseitigen Indienbildes vor: "Ob positiv oder negativ gewertet, war Indien eine vergangene Größe. Ursprungstraum, verlorenes Paradies, Wiege der Kultur oder Kindheit der Menschheit. Die Gegenwart war ein matter Abglanz, ja degenerierte Stufe der einstigen Glorie." Unabhängig davon, ob dieser Vorwurf zutrifft oder nicht, scheint eine solche Sicht auf das Fach heute weitverbreitet zu sein.

  • Das grausame Indienbild

Auch das grausame Indienbild, das die negativen Aspekte der indischen Gesellschaft betont, verweigert Indien die Gleichzeitigkeit. So war Karl Marx (1818-1883), ein früher Vertreter dieses Indienbildes und ein ansonsten überzeugter Antiimperialist, noch 1853 davon überzeugt, dass Indien nur durch die Kolonisierung der laut ihm zivilisatorisch überlegenen Briten die nächste Zivilisationsstufe – den Kommunismus – erreichen könne.

Heute wird das Bild eines rückständigen und grausamen Indiens vor allem von Medien, Entwicklungsorganisationen und vielen Sozialwissenschaftlern aufrechterhalten. Während den Medien seit jeher eher negative Berichte Aufmerksamkeit garantieren, besteht auch für Entwicklungsorganisationen und Teile der Sozialwissenschaften die Notwendigkeit von Problemen, für die sie Lösungen anbieten können.

  • Das profitable Indienbild

Obwohl Indien sich 1991 wirtschaftlich öffnete, wurde die deutsche Öffentlichkeit erst 2000 durch Schlagzeilen wie "Kinder statt Inder" im Rahmen der Pläne, indische IT-Kräfte für den deutschen Arbeitsmarkt anzuwerben, darauf aufmerksam, dass Indien mehr zu bieten hat. Zahlreiche Publikationen zur aufstrebenden neuen Wirtschaftsmacht, interkulturelle Beratungsagenturen und letztendlich unrealistische Zahlen zu einer kauffreudigen Mittelschicht zeichneten erneut ein einseitiges Indienbild und schürten somit die Hoffnungen auf das große Geschäft, das jedoch für die meisten deutschen Firmen ausblieb.

Die Enttäuschung auf Seiten dieser Firmen ist vergleichbar mit dem Schock, den Anhänger des romantischen Indienbildes erleben, wenn sie, überwältigt von Menschengewimmel, Lärm und Gerüchen, auf dem Weg zu ihrem ersten Yoga-Kurs in Indien vom Taxifahrer übervorteilt werden. Auch die negativen Vorurteile gegenüber Indien sind wenig hilfreich, etwa im Umgang mit der stetig wachsenden Zahl indischer Studierender in Deutschland. Doch anders als zu China und Japan gibt es bis heute nur recht wenig Expertise, die zu Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft des zeitgenössischen Indiens und Südasiens überhaupt kompetent beraten und belastbare Prognosen liefern kann. Mit der Etablierung der gegenwartsbezogenen Südasienwissenschaft an wenigen deutschen Universitäten ist zumindest ein wenig Abhilfe in Sicht.