Internationale Hochschulsysteme
Wie Indien in Forschung und Lehre aufgestellt ist
Die Grundlage für das gegenwärtige Hochschulsystem Indiens wurde in der Zeit der britischen Kolonialherrschaft gelegt. Die Briten gründeten ein Netz von Hochschulen und führten, vor allem in den Naturwissenschaften, der Medizin und den Rechtswissenschaften, westliche Lehrinhalte in englischer Sprache ein.
Die erste staatliche Universität Indiens wurde 1857 gegründet, zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1947 gab es 19 Universitäten und mehrere Hundert Colleges. Heute ist das indische Hochschulsystem mit gut 900 Universitäten und nahezu 40.000 Colleges sowie 36,6 Millionen Studierenden eines der größten und wahrscheinlich auch eines der komplexesten weltweit.
Durch den permanenten Zuwachs an Institutionen und die Vielzahl von Hochschultypen, die sich hinsichtlich der Art ihrer Finanzierung, den jeweils zuständigen Regulierungsbehörden, dem Grad ihrer Autonomie, ihrer fachlichen Spezialisierung und dem Grad an Forschungstätigkeit unterscheiden, ist es für Außenstehende zunächst schwer zu durchdringen.
36,6 Millionen Studierende in Indien
In den letzten Jahren ist das indische Hochschulsystem exponentiell gewachsen. Zwischen 2008 und 2018 stieg die Zahl der Universitäten um 122 Prozent, die Zahl der Colleges um 65 Prozent. Die Anzahl der Studierenden erhöhte sich im selben Zeitraum von 17,2 auf 36,6 Millionen.
Die treibenden Kräfte hierfür sind einerseits politische Ziele wie die Erhöhung der Studierendenrate in der Gruppe der 18- bis 23-Jährigen auf 30 Prozent bis zum Jahr 2020, um somit breiteren Schichten den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Gleichzeitig steigt der Bedarf an akademischer Bildung aufgrund der demografischen Situation Indiens mit einer auf Jahre wachsenden, sehr jungen Bevölkerung. Außerdem hat über die letzten Jahre die Wertschätzung, die einer guten Bildung beigemessen wird, über alle Bevölkerungsschichten stark zugenommen.
Insbesondere die wachsende Mittelschicht legt großen Wert auf eine gute Ausbildung ihrer Kinder und begreift sie als Investition in die Zukunft. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass ein großer Teil des Kapazitätszuwachses bei den Studienangeboten auf den privaten Sektor entfällt.
Da die öffentlichen Hochschulen den steigenden Bedarf an akademischer Bildung bei Weitem nicht decken können, hat sich hier ein lukrativer Bildungsmarkt für private Anbieter eröffnet, auch wenn die Institutionen laut Gesetz nur als Non-Profit-Organisationen geführt werden dürfen.
Rund 38 Prozent der indischen Universitäten und 78 Prozent der Colleges sind in privater Hand, circa 67 Prozent aller Studierenden sind hier eingeschrieben. Die meisten dieser Hochschulen beschränken sich auf eine Ausbildung im Bachelorbereich und haben keinerlei nennenswerte Forschungsausrichtung.
Die zu zahlenden Studiengebühren können bis zu 10.000 Euro pro Studienjahr betragen und sind damit um ein Vielfaches höher als an öffentlichen Einrichtungen. Da die privaten Hochschulen keiner staatlichen Regulierungsbehörde unterstehen, können sie – anders als die öffentlichen Hochschulen – sehr flexibel agieren. Dadurch gelingt es einigen von ihnen, mit attraktiven, interdisziplinären Studienangeboten Nischen zu besetzen und auch sehr gute Lehrende und Studierende zu gewinnen.
Die qualitativen Unterschiede zwischen einzelnen privaten Institutionen sind jedoch sehr groß. So finden sich einige Hochschulen im nationalen Hochschulranking NIRF (National Institute Ranking Framework) auf den vorderen Plätzen. Es gibt aber auch viele Institute, die völlig ungeregelt entstehen und deren vergebene Abschlüsse praktisch wertlos sind.
Als Mindeststandard für die Qualität einer Hochschule ist daher die staatliche Anerkennung durch die Universities Grant Commission (UGC) zu werten, die auf ihrer Website nicht nur die Liste der anerkannten privaten Hochschulen führt, sondern auch eine der nicht-anerkannten. Private Hochschulen sind in Indien von der Antragstellung für öffentliche Fördermittel überwiegend ausgeschlossen.
Neben dem stark expandierenden privaten Bereich nimmt auch die Zahl der staatlichen Hochschulen weiter zu. Hier versucht die Regierung insbesondere auf die Stärkung und den Aufbau von Exzellenzhochschulen zu setzen. So stieg die Zahl der sogenannten "Institutions of National Importance", zu denen unter anderem die bekannten Indian Institutes of Technology (IIT) und die Indian Institutes of Science Education and Research (IISER) zählen, in den letzten zehn Jahren von 38 auf 101.
Diese fachlich spezialisierten Institutionen unterstehen direkt der Zentralregierung und genießen im Gegensatz zu den anderen staatlichen, stark regulierten Hochschulen nicht nur weitgehende akademische und administrative Autonomie, sondern erhalten auch eine auskömmliche Finanzierung. Die Zahl der Central Universities, die ebenfalls direkt der Zentralregierung unterstehen, aber einen nicht ganz so hohen Autonomiegrad genießen, stieg im selben Zeitraum von 28 auf 45.
Nationales Ranking hat Qualität der Universitäten verbessert
Gut zwei Drittel der derzeit rund 900 Universitäten zählen jedoch zu den State Universities, für deren Aufbau und Betrieb die einzelnen Bundesländer verantwortlich sind. Auch die meisten Colleges fallen in die Zuständigkeit der Länderregierungen, die oft nur unzureichende Finanzmittel zur Verfügung stellen können.
Colleges dürfen in der Regel keine eigenständigen akademischen Grade vergeben und sind hierfür einer Universität angegliedert. Das bedeutet jedoch nicht, dass damit auch die Qualitätsstandards der entsprechenden Universität gelten. Manche Universitäten haben mehrere Hundert affiliierte Colleges, die akademisch völlig eigenständig und nur administrativ mit der Universität verbunden sind.
Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Qualität der akademischen Institutionen und für mehr Transparenz war das 2016 eingeführte National Institute Ranking Framework (NIRF). Hierüber sind die staatlichen Hochschulen gezwungen, jährlich Daten anhand von fünf festgelegten Parametern zu melden. Das Ranking listet – geordnet nach diversen Fachbereichen und Institutionstypen – die indienweit jeweils 50 bis 100 besten Hochschulen der jeweiligen Kategorie. Private Institutionen können sich freiwillig beteiligen.
Der intensive Ausbau des Hochschulsektors stellt die indische Regierung und die Hochschulen vor enorme Herausforderungen. Die relativen Ausgaben für Bildung stagnieren seit Jahren und liegen mit unter vier Prozent des BIP unter denen vergleichbarer Schwellenländer. Neben der offensichtlichen Frage der Finanzierung des expandierenden Systems ist insbesondere die Qualitätssicherung der Lehre problematisch.
Im Durchschnitt sind 40 Prozent aller regulären Professuren an den Hochschulen vakant, das betrifft auch renommierte Institutionen wie die IIT oder die großen staatlichen Universitäten. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass Indien über Jahrzehnte versäumt hat, seinen eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs heranzuziehen. Der Anteil der Promovierenden lag jahrelang bei lediglich 0,3 bis 0,6 Prozent aller Studierenden. Zum Vergleich: In Deutschland liegt ihr Anteil bei knapp vier Prozent. Zum Mangel an akademisch qualifiziertem Personal kommen unflexible regulative Auflagen und eine überbordende Bürokratie, die den Hochschulen die Besetzung von Stellen erschweren.
Finanzstarke Förderprogramme mit Schwächen
Dabei kommt den Hochschulen unbestritten eine Schlüsselrolle zu, wenn es um die künftige Entwicklung des Landes geht. Nachdem sich die indische Regierung jahrelang eher wenig für eine qualitative Verbesserung des Hochschulsektors interessiert hat, ergriff sie in den letzten Jahren eine Reihe von Maßnahmen und legte diverse finanzstarke Förderprogramme auf.
Diese zielen darauf ab, die Forschung zu stärken und die Internationalisierung der Hochschulen voranzutreiben. Fehlende Forschungsaktivität und vor allem die mangelnde Internationalität gelten als zentrale Gründe dafür, dass indische Hochschulen bisher kaum in den internationalen Rankings erscheinen. Zurzeit gibt es kaum ausländische Lehrende und auch die Zahl ausländischer Studierender ist mit rund 46 000 sehr gering. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von fehlender adäquater Infrastruktur an den Hochschulen bis zu langwierigen bürokratischen Verfahren.
Der 2017/18 ausgerufene Wettbewerb um den Titel "Institution of Eminence" versprach in diesem Zusammenhang interessante Impulse. Jeweils zehn staatlichen und privaten Institutionen sollte neben dem Titel vollständige Autonomie verliehen werden, den zehn erfolgreichen öffentlichen Hochschulen wurden zudem jeweils 150 Millionen US-Dollar in Aussicht gestellt.
Das Ziel war, dass sich die Institutionen zu weltweit wettbewerbsfähigen Hochschulen entwickeln, was sich vor allem in vorderen Platzierungen in den internationalen Rankings widerspiegeln sollte. Am Ende erhielten drei staatliche und zwei private Hochschulen den Zuschlag sowie ein Konzept für eine noch zu gründende private Institution.
"[...] bereits eine gute Anzahl von akademischen Institutionen, die in einigen Bereichen weltweit anschlussfähige Forschungstätigkeit vorweisen können."
Dieses Ergebnis ist leider sehr exemplarisch für die Hochschulpolitik. Die Probleme sind erkannt, die Ziele und Vorhaben groß. An der Umsetzung scheitert es allerdings oft. Außerdem zielen alle bisherigen Initiativen nur auf wenige Institutionen. Das Gros der Hochschulen und damit der Studierenden profitieren davon nicht. Es steht zu befürchten, dass sich die qualitative Schere zwischen wenigen exzellenten Institutionen und dem großen Rest künftig noch weiter öffnet.
Noch vor 20 Jahren wurde an indischen Hochschulen kaum geforscht und auch heute sind viele Hochschulen hauptsächlich Lehranstalten. Gleichzeitig misst die Regierung der Forschung immer mehr Bedeutung bei.
Mit den Institutions of National Importance, den Central Universities sowie einigen State Universities gibt es bereits eine gute Anzahl von akademischen Institutionen, die in einigen Bereichen weltweit anschlussfähige Forschungstätigkeit vorweisen können. Sie verfügen weitgehend über moderne Forschungsinfrastruktur und beschäftigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die gut ausgebildet und international vernetzt sind.
Neben den Hochschulen gibt es spezielle Forschungseinrichtungen, wie die Labore des Councils for Scientific and Industrial Research (CSIR) oder die Indian Space Research Organization (ISRO), die Indien binnen kurzer Zeit in die Liga der erfolgreichen Raumfahrtnationen katapultiert hat. Auch hier wird Forschung auf international wettbewerbsfähigem Niveau betrieben.
Bezogen auf die Bevölkerungszahl ist die Forschungslandschaft jedoch noch relativ klein. Mit weniger als einem Prozent des BIP stellt Indien weit weniger Geld für Forschung zur Verfügung als andere Länder. In der öffentlichen Forschungsförderung beklagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Verschiebung von der Grundlagenforschung hin zu anwendungsorientierter Forschung.
"Rising star" im Publikationswesen – vor allem in Chemie
Eine 2016 veröffentlichte Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) bezeichnet Indien daher auch als "wissenschaftliches Entwicklungsland". Diese Feststellung erfolgt mit Blick auf den mit vier Prozent noch recht geringen Anteil indischer Publikationen an der weltweiten Gesamtzahl wissenschaftlicher Publikationen sowie der weit unter Durchschnitt liegenden Anzahl an Zitierungen. Eine andere Studie von G.S. Seethapathy und anderen aus 2016 thematisiert die geringe Qualität einer Vielzahl von Publikationen.
So stammt mehr als ein Drittel aller Artikel in sogenannten "predatory journals" oder "pay-to-publish journals" von indischen Autoren. Als Grund hierfür gelten der hohe Publikationsdruck, dem junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Beginn ihrer akademischen Karriere an unterliegen, sowie das Fehlen von Monitoringmaßnahmen für die staatlich finanzierte Forschung.
Der Nature Science Index wiederum weist aus, dass auch die Zahl der qualitativen Publikationen aus Indien wächst. Indien zählt dort als "rising star", insbesondere im Bereich Chemie. Insgesamt belegt Indien im Nature Index seit mehreren Jahren Platz 13.
Indien wird in den kommenden Jahren zweifellos eine immer sichtbarere und wichtigere Rolle in der internationalen Wissenschaftslandschaft einnehmen. Der Blick auf die indische Hochschul- und Forschungslandschaft mag aufgrund der Größe und Komplexität zunächst verwirren. Vieles ist im Auf- und Umbruch. Im Unterschied zu anderen Ländern sind die Extreme vielleicht größer, mit Sicherheit sind es die Zahlen in allen Kategorien. Die passenden Partner zu finden, erfordert eventuell etwas mehr Aufmerksamkeit. Viele seit Jahren sehr erfolgreiche deutsch-indische Hochschulkooperationen zeigen, dass es sich für beide Seiten lohnt.