Kolleginnen umarmen sich
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Psychologie
Warum wir körperlichen Kontakt brauchen

Der Mensch ist von Natur aus ein Kontaktwesen. Woher kommt dieses Bedürfnis und welche Prozesse laufen bei Berührungen in unserem Körper ab?

Von Martin Grunwald 11.08.2019

Als Zeichen ihrer Anteilnahme umarmte kürzlich die neuseeländische Ministerpräsidentin Hinterbliebene der Terroropfer in aller Öffentlichkeit. Dieser Körperkontakt folgte keinem Protokoll der sonst üblichen Körperkontaktkultur im politischen Geschäft, sondern er war Ausdruck einer persönlichen Erschütterung über das Massaker.

Diese menschliche Reaktion von Frau Ardern ist sicher auf der politischen Bühne eher selten zu beobachten. Trotz dieser spezifischen Besonderheit der Situation wird darin ein allgemeines Reaktionsmuster deutlich, dass wir auch in anderen Kontexten bei unserer Spezies beobachten können. So ist es in allen Kulturen bei Traueranlässen durchaus üblich, dass Menschen, die sich kaum oder gar nicht kennen, ihre Anteilnahme durch Umarmung der Hinterbliebenen dokumentieren.

Das unausgesprochene und allgemein gültige Körperkontaktverbot der verschiedenen Kulturen wird im Rahmen von Trauer, Angst und Entsetzen durchbrochen. Ähnlich verhält es sich bei besonders freudigen Anlässen. Fernsehmillionäre umarmen ungeniert vor laufender Kamera den Moderator. Fußballspieler aller Ligen und Nationen nehmen intensiven körperlichen Kontakt zum Torschützen auf. Ist das Torereignis von besonderer Wichtigkeit, dann sind auch Haufenbildungen von Mitspielern über dem Körper des Torschützen beobachtbar. Gipfelstürmer umarmen sich nach Erreichen ihrer Höhenziele ebenso, wie die Crewmitglieder des Kontrollzentrums nach einer gelungenen Raumfahrtmission.

Erweiterung der Körper­kontaktzone

Über keine dieser skizzierten Verhaltensepisoden wundern wir uns im Alltag. In besonderen Momenten der Freude, Trauer oder Angst ist unsere Spezies beinahe reflexhaft bereit, die sonst übliche körperliche Zurückhaltung durch eine extreme Erweiterung der Körperkontaktzone zu überwinden. Dies gilt sowohl für die aktive als auch für die passive Position einer Körperinteraktion. Als Akteure wissen wir, dass es dem Anderen wenig nützt, wenn wir einen mehr oder weniger sachlichen Vortrag zum emotional geladenen Sachverhalt beisteuern. Dann wählen wir das schnellere Kommunikationsmittel: die Umarmung.

Im umgekehrten Fall, wenn wir uns selbst in einem außerordentlichen  Zustand befinden,  erwarten wir vom anderen keine gewählten Worte, sondern dessen Mitgefühl, seine Unterstützung, oder sein Beistand kann uns am besten versichert werden, wenn diese Signale körperlich transportiert werden. In Paarbeziehungen sind diese Mechanismen in der Regel Teil der Beziehungskultur, aber hinsichtlich des fremden Anderen erklärt es sich nicht von selbst, warum entgegen der reichhaltigen Tabuisierungen der spontane Körperkontakt dennoch Teil unseres Alltagshandelns ist. Denn betrachtet man dieses Verhalten aus den erhabenen Höhen kognitiv-rationaler Betrachtungen, wäre zu erwarten, dass unserer Spezies aufgrund der allgemeinen Sprachfähigkeit diese Mittel genügen müssten, um die kommunikativen Aspekte des Erlebens allein durch Verbalisierungen hinreichend zu transportieren.

Sachlich betrachtet sollte es für die Beteiligten der oben genannten Verhaltensskizzen durchaus genügen, wenn die Ministerpräsidentin oder die Fußballspieler ihre Botschaften jeweils verbal zum Ausdruck brächten. Auch zeichensprachliche, schriftliche Signale wären denkbar. Es erschließt sich somit nicht auf den ersten Blick, warum die sprachlichen Mittel für den kommunikativen Austausch unserer Spezies offenbar nicht immer ausreichend sind und das menschliche Verhalten zum Teil handgreifliche Züge entwickelt.

Tastsensibilität ist biologische Notwendigkeit

Um diesen Verhaltensaspekt besser zu verstehen, ist ein Blick auf die herausragende Reaktibilität des Säugetiers Mensch hinsichtlich verschiedener Qualitäten von Tastsinnesreizen erforderlich. Hierbei ist als Erstes hervorzuheben, dass die Reaktion auf leichte Verformungen der physischen Körpergrenzen (Haut) schon vorgeburtlich, in der 7. Schwangerschaftswoche, nachgewiesen werden kann.

Lange bevor sich eine Reaktibilität für andere Sinnesqualitäten entwickelt, ist der Fötus in der Lage, physische Einwirkungen auf seinen Körper zu registrieren. Diese hohe und extrem frühzeitige Tastsensibilität des fötalen Säugetiers ist keine zufällige Laune der Natur, sondern eine biologische Notwendigkeit. Einerseits verwertet der Säugetierorganismus die Körperkontaktreize in Form von  Wachstumsprozessen, andererseits stabilisieren sie die neuronale Kartierung der eigenen Körpergrenzen.

"Sozial vermittelte Körperberührungen wirken sich positiv auf die Regulation der Stress- und Schmerzbiologie aus."

Durch die mütterlichen Bewegungen und durch seine Eigenbewegungen erfährt der Fötus ein reichhaltiges Repertoire an passiven (taktilen) und aktiven (haptischen) Tastsinnesreizen. Sie sind es, die entscheidend das neuronale und körperliche Wachstum des Fötus fördern. Fehlt die Stimulation des Organismus durch Tastsinnesreize, wie etwa bei Frühgeborenen im Inkubator, dann sind Reifungsverzögerungen oder Reifungsstörungen die Folgen. Die funktionale Bedeutung der tastsinnesspezifischen Körperstimulation setzt sich auch nachgeburtlich fort.

Sowohl am Tiermodell als auch in humanen Studien ist sicher belegt, dass sozial vermittelte Körperberührungen nicht nur das zelluläre Wachstum junger Säugetiere auf verschiedenen Ebenen fördern, sondern auch auf die Regulation der Stress- und Schmerzbiologie wirken sich adäquate Berührungsreize positiv aus. Erregungs- oder Schmerzzustände kann ein Säugling oder Kleinkind umso besser bewältigen, je mehr die körpereigene Biochemie der Stress- und Schmerzregulation durch adäquate mechanische Hautverformung unterstützt wird. Es sind Berührungsreize, die der kindliche Organismus in einen komplexen neurochemischen Cocktail verwandelt, der sich auf neurobiologischer und psychischer Ebene als Entspannungsreaktion nachweisen lässt.

Ins psychische Gleichgewicht zurückkommen

Der in früher Kindheit erlernte Mechanismus einer erfolgreichen biochemischen Verwertung leichter bis mittelstarker Hautverformungen ist der Schlüssel zum Verständnis, warum wir auch im Erwachsenenalter – trotz ausreichender kultureller Formung – unser soziales Umfeld mit mäßig starken Hautverformungen konfrontieren. Wenige Sekunden Körperkontakt sind nicht nur sozial-kommunikative Akte der nichtsprachlichen Verständigung unserer Spezies, sondern sie dienen vor allem den Akteuren, einen Zustand des psychischen Gleichgewichts zu erreichen.

Pendelt das neurobiologische Erregungsniveau bei übermäßiger Freude, Trauer oder Angst über ein ertragbares Niveau hinaus, dann aktiviert die kurze mechanische Verformung der Körperhaut einen Großteil der komplexen Entspannungsbiologie, die wir für die Regulation unserer Emotionen benötigen. Umarmungen zwischen Menschen stehen demnach mitnichten ständig im Dienst reproduktiver oder sexueller Interessen. Sie helfen dem Säugetier Mensch nach psychischer Irritation wieder einen Zustand der Handlungs- und Sprachfähigkeit zu erreichen. Diese biologischen Gesetze wirken auch bei den Beteiligten des akademischen Betriebs. So soll es schon vorgekommen sein, dass Doktoranden oder Habilitanden nach einer zähen Verteidigungsprozedur ihre Betreuer ohne Vorwarnung handfest umarmt haben. Auch akademische Betreuer wurden schon gesichtet, die im Zustand freudiger Erlösung ihre Schützlinge mit einer festen Umarmung beglückwünschten. Diese Verhaltensmomente sind auch im Kontext des Wissenschaftsbetriebes keine unwürdigen Entgleisungen, sondern Ausdruck unseres Menschseins als Homo hapticus.