Straßenansicht aus der ukrainischen Stadt Irpin: Zerstörte Panzer und Fahrzeuge, die von Menschen fotografiert werden.
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Kriegserfahrung
Wie geht es den Ukrainern im Krieg?

Kaum vorstellbar: Man wacht auf und es ist Krieg. Kiewer Forschende haben ihre Landsleute nach Verhalten und Denken im Ukraine-Krieg befragt.

08.04.2022

Wie gehen die Menschen in der Ukraine damit um, dass Krieg herrscht in ihrem Land? Warum flüchten die einen und aus welchen Gründen bleiben andere? Unter anderem diese Fragen hat das Kiewer Institut Cedos in einer Online-Umfrage Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine gestellt. In der Veranstaltungsreihe "Voices from Ukraine" der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) haben die ukrainischen Forschenden der Think-Tank-Einrichtung die qualitative und nicht repräsentative Studie am Donnerstag vorgestellt.

555 Menschen in der Ukraine haben demnach an der Befragung teilgenommen. In sechs Frageblöcken wurde geschaut: Wie geht es den Menschen im Krieg. Verbreitet wurde die Befragung über soziale Netzwerke, Bekannte, Familien und Freunde. 66 Prozent der Befragten waren den Angaben zufolge zwischen 25 und 54 Jahre alt, 29 Prozent von ihnen zwischen 15 und 24 Jahre. Über 70 Prozent der Antworten kamen von Frauen.

Einblicke in die Gefühlswelt von Ukrainerinnen und Ukrainern

Nach Angaben der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Kiew berichteten ukrainische Befragte unter anderem von Fassungslosigkeit, Apathie oder einer emotionalen Achterbahnfahrt, nachdem der Angriff Russlands auf ihr Land begonnen hatte. In einer Antwort hieß es etwa: "Von Tag drei wurde ich von dem größten Hass überwältigt, den ich jemals gespürt habe." In einer anderen Antwort beschrieb sich jemand als "sanften" Menschen, der nie jemandem etwas Schlechtes gewollt habe und nun demjenigen, der sein Land zerstöre, Leid und Schmerz wünsche.

Befragte schrieben in ihren Antworten, sie hätten überlegt, ob sie das Land verlassen oder bleiben sollen. Nach Angaben der Forschenden äußerten einige, dass sie sich zunächst noch sicher fühlten, da noch keine Explosionen zu hören waren. Als die Kämpfe näher kamen, sei es unheimlich gewesen, nach draußen zu gehen und der Krieg sei real geworden. Ihr Gedanke: "Das kann nicht sein, es darf nicht sein."

"Die Befragung ist eine erste Sammlung und qualitative Studie, um sich vorstellen zu können, was Krieg mit dem Menschen macht", sagte Sozialwissenschaftlerin Dr. Susann Worschech der Deutschen Presse-Agentur. Es sei mutig, solche Art von Sozialforschung mitten in einem sich ausbreitenden Krieg zu betreiben. "Damit wir uns das irgendwie vorstellen können, was das mit Leuten macht." Worschech beschäftigt sich seit 2004 mit der Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft und forscht zu Protest- und Revolutionsgeschichte.

Viele hätten geantwortet, dass es bei ihnen noch ruhig sei, sie sich aber auf die Ausbreitung des Krieges vorbereiten, berichtete Worschech. Die Menschen seien seit Monaten von den Behörden angehalten worden, einen Überlebensrucksack mit dem Nötigsten zu packen. Nach dem Angriff seien viele in den Modus übergegangen, schnell Sachen zu organisieren und Dinge abzuarbeiten.

Die ukrainische Zivilgesellschaft

Zehn Millionen Menschen sind nach ihren Angaben in der Ukraine auf der Flucht, sechs Millionen davon Binnenflüchtlinge. Die Verteilung und Betreuung der Flüchtlinge innerhalb der Ukraine haben Organisationen und Netzwerke übernommen, die es schon mit der russischen Annexion der Krim 2014 und der Besetzung des Donbass gebe. Diese bestehende Infrastruktur aus Freiwilligen und Organisationen sei nun ein Vorteil.

Die ukrainische Zivilgesellschaft hat der Forscherin zufolge zwei wichtige Charakteristika: Sie lebe seit Jahrzehnten in einem Protestmodus und wüsste, dass sie keine Freiheit geschenkt bekomme. Das habe sich durch die Geschichte gezogen. Das Durchhalten und Dagegenhalten sei deshalb etwas "sehr Ukrainisches", schätzte sie ein. Zugleich habe die Gesellschaft insgesamt ein ziemliches Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Daher gebe es in der Ukraine eine große Selbstorganisationsfähigkeit und Eigeninitiative.

An der Europa-Universität Viadrina arbeiten und studieren derzeit fast 150 Menschen mit einer ukrainischen Staatsangehörigkeit. Ukrainische Studierende bilden damit die drittgrößte Gruppe internationaler Studierender. Die Europa-Universität Viadrina hat langjährige, enge Partnerschaften mit Akteurinnen und Akteuren der ukrainischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Das Kiewer Institut Cedos hat die Umfrageergebnisse auch als Report veröffentlicht, der online einsehbar ist.

dpa/cpy