Kyrill I. und Wladimir Putin bei einer Veranstaltung im November 2014.
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Russland
Religiöse und nationale Identität in Russland

Die orthodoxe Kirche und der russische Staat bilden seit den 1990er Jahren eine Allianz. Ein Beitrag über Hintergründe und Folgen.

Von Detlef Pollack 23.03.2022

Seit Jahren tritt der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche als verlässlicher Unterstützer der politischen Linie des Kremls auf. In einer seiner letzten Predigten bezeichnete Kyrill I. die Feinde Russlands als "Kräfte des Bösen". Wie für Präsident Wladimir Putin ist auch für Kyrill Russland das Opfer westlicher Mächte, die ihm seine Identität rauben wollen und gegen die es zur Bewahrung seiner Größe kämpfen muss.

Russland ist für die orthodoxe Kirche ein heiliges Land, das seit der Taufe der "Kiewer Rus" im Jahr 988 die Ukraine einschließt und durch fremde Kulturen nicht entweiht werden darf. Dabei steigert Kyrill den Angriff auf die Ukraine ins Überirdische, denn beim Krieg handelt es sich seines Erachtens um einen "metaphysischen Kampf", um einen Kampf zwischen himmlischen und höllischen Mächten, in dem es darauf ankommt, im Namen "des Rechts, sich auf der Seite des Lichts zu positionieren, auf Seiten der Wahrheit Gottes, auf Seiten dessen, was uns das Licht Christi, sein Wort, sein Evangelium offenbaren". Hier geht es ums Ganze, um das Recht, das Gute, um Gott. Wer nicht die richtige Seite wählt, der ist ein Feind nicht nur Russlands, sondern Gottes, der Wahrheit und des Guten.

"Russland ist für die orthodoxe Kirche ein heiliges Land, das durch fremde Kulturen nicht entweiht werden darf."

Der scharfe Dualismus dient Kyrill dazu, die Zaudernden auf die Gegenseite zu bringen und den Kampf für Russland zu einer heiligen Pflicht zu erklären. Die metaphysische Überhöhung ist einerseits nötig, um den Bruch des Völkerrechts theologisch zu rechtfertigen, andererseits aber auch, um Abweichler zu stigmatisieren und die Reihen fester zu schließen. Die Bezeichnung des Krieges als einen Kampf gegen Gay-Pride-Paraden ist insofern durchaus kein Zufall. Mit ihr will Kyrill konservative Gläubige für den Krieg gewinnen. Dass der Patriarch als besondere Gefahren für die russische Kultur ausgerechnet kulturellen Pluralismus, Homosexualität und Meinungsvielfalt ausmacht, ist aber noch mehr als nur ein taktisches Argument. Homophobie, Xenophobie und Homogenitätsvorstellungen sind essenziell für die orthodox-autokratische Weltsicht.

Große Erwartungen an die orthodoxe Kirche nach 1990

Immerhin knapp 70 Prozent der Russen zählen sich zur Russisch-Orthodoxen Kirche. Kann der Patriarch mit einer solchen Botschaft die Kirchenmitglieder gewinnen? Werden sie ihn in seinem metaphysischen Kampf unterstützen? Wir wissen es nicht. Was sich aber in den letzten Jahren deutlich gezeigt hat und durch viele Quellen, unter anderem auch durch repräsentative Meinungsumfragen, bestätigt werden kann, ist die Tatsache, dass beachtliche Teile der russischen Bevölkerung große Erwartungen an die orthodoxe Kirche richten und in ihr einen Hoffnungsträger der gedemütigten Nation sehen.

Als die Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre zusammenbrach, war der Nationalstolz in Russland so gering wie in kaum einem anderen ost- und ostmitteleuropäischen Land. Ausgelöst durch den Verlust des Weltmachtstatus und verstärkt durch den wirtschaftlichen Niedergang Russlands in den 1990er Jahren empfanden viele Russen den Zusammenbruch des Sowjetreiches als eine nationale Katastrophe. Noch Jahre später bezeichneten ihn etwa 50 Prozent der Russen als eine Schande. 1992 waren es nur 13 Prozent, die die Russen als ein großes Volk ansahen, dem ein spezieller Platz in der Weltgeschichte zukomme. Zugleich sprachen sich in den 1990er Jahren knapp drei Viertel dafür aus, dass Russland eine Supermacht sein solle.

Heute sehen 62 Prozent die Russen als ein großes Volk an, dem ein spezieller Platz in der Weltgeschichte zukommt, und fast 90 Prozent meinen, Russland solle eine Supermacht sein. Dabei weisen sie der russischen Nation vor allem die Funktion zu, ein Gegengewicht gegen den Einfluss des Westens zu bilden. Nach den Erhebungen des Pew Research Centers von 2017 sind es 85 Prozent der Russen, die diese Erwartung hegen.

Die Renaissance der Religiosität in Russland

Zu diesem Wiedererwachen des russischen Nationalgefühls trug die Russisch-Orthodoxe Kirche nicht unerheblich bei. Sie tritt für eine Stärkung der russischen Nation ein, für eine Festigung traditioneller Familienwerte und entwirft den orthodoxen Glauben als Grundlage des nationalen Selbstbewusstseins. Sie steht für die große Vergangenheit Russlands, die angesichts der erfahrenen Demütigungen durch den Westen wieder hergestellt werden soll. Seit Jahrzehnten meint eine deutliche Mehrheit der russischen Bevölkerung, um ein wahrer Russe zu sein, müsse man orthodox sein. Und tatsächlich stieg die Zahl derjenigen, die sich mit der Orthodoxie identifizieren, von 1990 bis 2020 von einem Drittel auf mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, die Zahl der Gottgläubigen gar von 44 auf 78 Prozent.

"Seit Jahrzehnten meint eine deutliche Mehrheit der russischen Bevölkerung, um ein wahrer Russe zu sein, müsse man orthodox sein."

Zurückzuführen ist die religiöse Renaissance in Russland weniger auf eine tiefe Verinnerlichung des orthodoxen Glaubens, auf familiäre religiöse Erziehung oder auf überzeugende religiöse und soziale Angebote der Kirche, sondern vor allem darauf, dass die orthodoxe Kirche nach 1992 zur Trägerin nationaler Identität aufstieg. Als wichtigste Gründe für ihre Hinwendung zur Orthodoxie gaben die konfessionslos aufgewachsenen Russen an, dass Religion in der russischen Öffentlichkeit akzeptabel geworden sei und dass sie mit ihrer Konversion eine Beziehung zum nationalen Erbe herstellen wollten.

Die Zugehörigkeit zur Kirche ist in Russland also vor allem ein Instrument der nationalen Identitätsbildung. Das religiös aufgeladene Nationalbewusstsein besitzt daher nicht zufällig einen tendenziell imperialen Charakter. Die meisten Russen (69 Prozent) halten die russische Kultur gegenüber anderen für überlegen. 77 Prozent sind stolz auf ihre religiöse Identität. Sah noch 1999 nur ein Drittel der Russen in Russland eine Supermacht, so behaupten dies heute drei Viertel. Hinter dem Bemühen um die Wiederherstellung eines imperialen Russlands scheint eine gefährliche Mischung von Erniedrigungsgefühlen und Überlegenheitsansprüchen zu stehen.

Kulturelle Überlegenheit, Religion und nationale Identität

Für diese Annahme lässt sich weitere empirische Evidenz mobilisieren. Erstens gibt es einen statistisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen der religiösen Qualifizierung der nationalen Identität und Religiositätsindikatoren wie Kirchgang, Gottesglaube, Gebet und religiösem Selbstverständnis: Wer Religion als einen bedeutsamen Teil der nationalen Identität ansieht, weist eine größere Nähe zu Religion und Kirche auf als derjenige, der das nicht tut. Dieser Zusammenhang ist in westeuropäischen Ländern genauso hoch wie in ost- und ostmitteleuropäischen. Er schlägt in Ost- und Ostmitteleuropa jedoch stärker zu Buche, da dort – das gilt insbesondere für Georgien, Serbien, Rumänien, Russland, Bulgarien, Polen, Litauen, Kroatien und die Slowakei – die religiöse Aufwertung der Nation weitaus verbreiteter ist als in Westeuropa.

Zweitens lässt sich auch eine positive Korrelation zwischen dem Gefühl, die eigene Nation sei anderen Nationen kulturell überlegen, und dem Religiositäts- und Kirchlichkeitsniveau feststellen. Mit der Bejahung dieses Gefühls wächst in vielen Ländern auch die Wahrscheinlichkeit, sich als religiös zu verstehen, zum Gottesdienst zu gehen, an Gott zu glauben und zu beten, und das wiederum sowohl in Ost- und Ostmitteleuropa als auch in Westeuropa. Doch auch hier kommt diesem statistischen Zusammenhang in den Ländern Ost- und Ostmitteleuropas eine größere soziale Bedeutung zu als in den Ländern Westeuropas, da das Gefühl der kulturellen Überlegenheit im Osten Europas verbreiteter ist. In Bosnien, Bulgarien, Kasachstan, Rumänien, Russland und Serbien überschreitet der Anteil derjenigen, die die eigene Nation gegenüber anderen für überlegen halten, zwei Drittel, in Armenien und Georgien sogar die 85-Prozentmarke.

Drittens ist im postkommunistischen Europa das Gefühl kultureller Überlegenheit umso stärker ausgeprägt, je mehr Menschen dazu neigen, ihre nationale Identität religiös zu definieren. Religion wirkt hier offenbar als Instrument kollektiver Selbstermächtigung. András Máté-Tóth spricht zur Bezeichnung dieser charakteristischen osteuropäischen Affektlage von einer verwundeten kollektiven Identität. Sollte er Recht haben, müssen wir in Zukunft in Osteuropa mit weiteren gefährlichen Ausbrüchen des religiösen Nationsbewusstseins rechnen.