Bundeskanzler Olaf Scholz während der Regierungserklärung zu Beginn der Sondersitzung des Bundestags zum Krieg in der Ukraine am 27. Februar 2022.
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Ukraine-Krieg und deutsche Politik
Die Provokation der Freiheit

Putins Angriff auf die Ukraine hat die europäische Ordnung erschüttert. Markiert der Kriegsbeginn auch einen Neuanfang in der deutschen Politik?

Von Karl-Rudolf Korte 01.04.2022

"Wir werden es verteidigen." So endete die Regierungserklärung zur "Zeitenwende" von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag, den 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag. Gemeint war die Verteidigung des "freien und offenen, gerechten und friedlichen Europas". Doch anders als sonst war der Imperativ des Kanzlers keine rhetorische Routineformulierung. Allen Zuhörerinnen und Zuhörern war vielmehr klar, dass der Verteidigungsfall der Bundesrepublik Deutschland eintreten kann. Und zwar jetzt. Die Eskalation des Angriffskrieges durch Putin erschüttert die europäische Ordnung und verändert vollkommen die Koordinaten der deutschen Innen- und Außenpolitik. Es ist ein externer Schock für unser politisches System, mit weitreichenden Folgen.

Die Regierungserklärung

Die Regierungserklärung, 81 Tage nach dem Start der Ampel-Bundesregierung, könnte gleichsam bereits ihr Höhepunkt gewesen sein. Selten sieht man in solcher Reinform, wie sich Sprachgewinn in Machtgewinn durch eine Rede verwandelt. Die Ampel dümpelte bis dahin relativ führungslos durch die Impfdiskussionen. Mit minimalistischer Kommunikation hatte sich Scholz über Wochen unauffällig gezeigt mit geradezu aggressivem Schweigen. Dann überfiel Russland die Ukraine und überrascht fassungslos sahen wir ängstlich zu. Das 20. Jahrhundert traf auf das 21. Jahrhundert, die imperiale Idee setzte sich neben das Paradigma der Kommunikation und der Diplomatie – Panzer statt Reden. Unsere jahrelange entschlossene Gleichgültigkeit gegenüber den Forderungen der Ukraine, die sich an der Krim und im Osten des Landes bereits der russischen Übermacht gegenübersah, brach auf. Aber was tun? In dieser diffusen Stimmungslage ergriff der Kanzler die Initiative und ging in die Offensive.

"Der Krieg schuf erstmals nach Jahrzehnten vermeintlicher Sicherheit einen neuen Angstzustand."

Sprache als Medium legitimiert die Macht. Sie gibt der Handlungsfähigkeit einen Ausdruck und schafft eine neue politische Lage. Die Parlamentsrede in der Sondersitzung des Bundestags ist ein Musterbeispiel für politische Führung, die Ängste der Bürgerinnen und Bürger in Krisenzeiten durch transparente Kommunikation minimiert. Die Angst ist bei Sicherheitsdeutschen und Pazifismusmeisterinnen und -meistern immer präsent. Doch der Krieg schuf erstmals nach Jahrzehnten vermeintlicher Sicherheit einen neuen Angstzustand. Die Bedrohung war nicht mehr abstrakt, sie war unmittelbar. Wer schützt mich im Kriegsfall wie? Allein so eine Frage zu formulieren, war nicht nur retro, sondern galt als unzeitgemäßes Vokabular aus dem Kalten Krieg. Wer so öffentlich oder auch privat formulierte, isolierte sich schnell. Postmoderne war angesagt. Zwar spielte Sicherheit auf dem Wählermarkt immer eine dominante Rolle. Sie prägte entscheidend Wahlmotive der letzten Jahre. Doch gemeint waren stets andere Dimensionen von Sicherheit: innere, ökonomische, kulturelle, zuletzt gesundheitliche. Die äußere und sicherheitspolitische Dimension unserer Staatsräson galt als wichtig, aber ebenso als gegeben. Anstatt uns über unsere eigene Landesverteidigung auszutauschen, orientierten und beteiligten wir uns lieber an internationalen Einsätzen.

Die Pandemie hatte bereits fundamentale Selbstgewissheiten ins Wanken gebracht. Es ging bei der Bekämpfung des Virus existenziell um das Überleben der Bürgerinnen und Bürger, was den Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gesundheit strapazierte. Erst traf uns die Pandemie, jetzt der Krieg. Erst nahm uns die Politik viele Freiheitsrechte, um das Überleben zu sichern. Jetzt nahm uns der Krieg elementare Sicherheit. Wie verteidigt man unter diesen Bedingungen von Vielfachkrisen die Ordnung der Freiheit? Was folgt nach diesem seriellen Gewissheitsschwund?

Ein Vergleich mit 1989

Einiges glich im Februar 2022 – bei aller Problematik des historischen Vergleichs – dem Herbst von 1989, als bereits die Mauer gefallen war, aber unklar war, in welche Richtung sich das Weltgeschehen wendet. Damals setzte Kanzler Helmut Kohl mit seinem 10-Punkte-Programm vom 28. November 1989 eine Richtungsentscheidung überraschend durch. Der Plan enthielt konkrete Schritte einer deutsch-deutschen Annäherung. Auch damals herrschte eine diffuse Öffentlichkeit, die es politisch zu strukturieren galt. Heute, im Februar 2022, hatte Scholz seine Richtlinienkompetenz als Kanzler dezionistisch genutzt, bei der er die fundamentale Richtungsänderung wichtiger Koordinaten der Innen- und Außenpolitik vortrug. Seine Koalitionspartner waren von der beabsichtigten Militarisierung nur kurzfristig ins Benehmen gesetzt worden. Zu den Eingeweihten gehörten maximal zehn Verbündete.

Wieso entfaltete diese Rede eine so fundamentale Wirkung? War es der Geist der neuen Wehrhaftigkeit, der beschworen wurde? Oder waren es die aufgeworfenen existenziellen und moralischen Fragen: Was ist historische Verantwortung wert? Was sind uns Frieden und Freiheit wert? Tun wir genug oder nur, was uns zumutbar erscheint?

Gemeinschaftliches Demokratie-Erlebnis

Die Regierungserklärung avancierte zu einem ungewöhnlichen, gemeinschaftlichen Demokratie-Erlebnis: Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier erhoben sich klatschend zur Begrüßung des ukrainischen Botschafters; die CDU/CSU-Oppositionsfraktion erhob sich applaudierend bei den Passagen der Regierungserklärung zur konkreten langfristigen Aufrüstung und alle Bundestagsabgeordneten wiederum leisteten stehende Ovationen, nachdem der Kanzler seine Rede beendet hatte. Solche Momente sind ganz selten im deutschen Parlamentarismus. "Rally-round-the-flag-Effekte" kennen wir als Stunde der Exekutive. In Deutschland nehmen historisch der Grad an Staatszentriertheit und Staatsvertrauen zu, wenn Krisenszenarien die öffentliche Meinung dominieren. Davon profitieren auch die Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker.

Krisen adeln über Nacht die Demokratie. Bürgerinnen und Bürger erwarten dann die entschlossene Umsetzung des Primats der Politik, möglichst als heroische Chefsache der Krisenmanagerin oder des Krisenmanagers. Die Bürgerinnen und Bürger sehnen sich in solchen Konstellationen nach einem starken Staat. Sicherheitskonservatismus ist eine politisch-kulturelle Konstante in Deutschland. Der Bundeskanzler knüpfte insofern mit seiner Regierungserklärung an Resonanzerwartungen der Bevölkerung an. Scholz buchstabierte in zugespitzter Dynamik das Neue: Aufrüstung, zwei Prozent-Zielmarken des Bruttosozialprodukts der NATO, bewaffnete Drohnen, Kampfjets mit Nuklearbewaffnung. Mit geradezu demokratischem Trotz priorisierte er die veränderten Koordinaten der deutschen Sicherheitspolitik und präsentierte den Paradigmenwechsel in krasser Kehrtwende zu den parteipolitischen Prämissen der SPD und der Grünen. Selten sah man das Parlament so zustimmend-überrascht überrumpelt.

Ein Kipp-Punkt der deutschen Politik

Die Rede strahlte mit einer clever orchestrierten und rhetorisch raffinierten 5-Punkte-Auflistung zur Verteidigung. Insofern leistete sie in Zeiten des Gewissheitsschwundes kohärente Antworten auf wichtige Aspekte der Verteidigung. Ihr Erfolg hing mit dem Publikumsbezug zusammen. Das Geheimnis guter Reden liegt nicht nur im Timing, sondern in der Fähigkeit, an die Erwartungen und Überzeugungen der Zuhörerschaft anzuschließen. Die erfolgreiche Rede überzeugt nicht zwingend ihr Publikum mit neuen Ideen, sondern fokussiert in Worten, was wir bereits denken. Das bereits Gedachte klarer, eindeutiger und konkreter zu machen, gehört zur Redekunst und zum Erfolg des Auftritts. Wir ahnten nach Kriegsbeginn, dass eine neue formative Phase für die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger beginnt. Die Rede verwandelte unsere Ahnungen in sagbare Argumente. Scholz überzeugte uns nicht von der notwendigen Aufrüstung zur Landesverteidigung. Er bestätigte eher, was wir bereits dachten, nachdem die Panzer rollten. Es war ein Kipp-Punkt der deutschen Politik, ein Momentum, bei dem innerhalb weniger Minuten jahrzehntealte Gewissheiten niedergerissen wurden. Ein Befreiungsschlag. Ein Ende der Zurückhaltungskultur der Sicherheitsdeutschen. Ein eloquentes Beispiel demokratischer Führung.

Die Wucht des Ereignisses antiquierte den Koalitionsvertrag, der in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit die ausformulierten Zumutungen der Transformation völlig neu gewichtete.  Das inhaltliche Potenzial des Koalitionsvertrags und der veränderungspatriotische Duktus bleiben relevant, aber in einer neuen Gewichtung. Der Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) sprach zurecht von der "Provokation der Freiheit" durch den Kriegsbeginn. Sicherheit geht zukünftig keineswegs vor Klimaschutz. Die Transformation ist durch den Realitätsschock vielmehr noch komplexer geworden. Denn Infrastruktur sichert auf vielfältige Weise Freiheit. Und die Investition und Innovation im Bereich der Infrastruktur durchzieht alle Ampel-Vorhaben. Da steht bedingungslose Daseinsvorsorge weiterhin an erster Stelle. Was wir bislang eher als Resilienzvorsorge im Bereich von Gesundheit angesiedelt hatten, dehnt sich in alle Bereiche der Sicherheit aus – insbesondere in die Energiesicherheit. Die langfristige Unabhängigkeit von fossiler Energie hat jetzt nicht nur eine klimapolitische, sondern eine sicherheitspolitische Dringlichkeit, will man sich von russischen Lieferungen befreien.

"Die Wucht des Ereignisses antiquierte den Koalitionsvertrag."

Infrastruktur sichert aber auch Freiheit im Sinne von Demokratievorsorge.  Wer sich besonders um politische Verlassenheit im ländlichen Raum kümmert, wird auf Resonanz stoßen und Vorsorge gegen politischen Extremismus betreiben. Wie sichtbar ist der Staat für Bürgerinnen und Bürger, wenn kein Bus mehr fährt, öffentliche Einrichtungen geschlossen sind, digitale Kommunikation nicht möglich erscheint und Polizeistationen weit entfernt sind? Wer hier investiert, gewinnt die Mitte-Wählerschaft verlässlich zurück. Wehrhaftigkeit bedarf einer Gesellschaft, die gemeinwohlorientiert agiert.

Die zentrale Bewährungsprobe

Auch der Schutz einer intakten Öffentlichkeit als Struktur gehört zur Demokratievorsorge und zum Programm einer neu auszurichtenden infrastrukturellen Transformation in Kriegszeiten. Die Qualität von Öffentlichkeit ist ein Garant der Qualität von Demokratie. Das setzt den aktiven Kampf gegen Desinformationsmedien sowie Wirklichkeitsleugner voraus. Der Bundespräsident erinnerte im Kontext der kompletten Abschaffung der Pressefreiheit in Russland daran: "Alles kann passieren, wenn Menschen keinen Zugang zu Informationen (…) haben" (10. März 2022). Wir brauchen belastbare Strukturen für politische Öffentlichkeit, um die demokratienotwendigen Selbstverständigungsdiskurse zu führen. Unsere Regierung ist immer zustimmungs-, rechenschafts- und legitimationspflichtig, was freie und wahrhaftige Kommunikation voraussetzt. Medienpolitische Infrastruktur sichert somit auch Freiheit.

Der Kriegsbeginn markiert insofern nicht nur einen Gewissheitsschwund in der deutschen Politik, sondern durchaus auch einen Neuanfang. Die Regierungserklärung intonierte das Wagnis des Beginnens. Es war der strategische Moment, der eine Kanzlerschaft ins Geschichtsbuch bringen kann. Es bleibt ein Tageserfolg, wenn die Regierung nichts daraus macht. Der Krieg ist die zentrale Bewährungsprobe der Ampel-Koalition. Wie können die sozialen Zumutungen, die uns erreichen werden, zugleich sozialverträglich und freiheitlich verlaufen?

"Krieg in der Ukraine" - Schwerpunkt der April-Ausgabe von Forschung & Lehre

Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf das Nachbarland Ukraine hat die Welt erschüttert, von einer Epochenwende ist die Rede. Die Menschen im Land erfahren gegenwärtig unendliches Leid, Tod, Flucht und Zerstörung.

Wie erleben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese Zeit? Was sagen unmittelbar Betroffene? Wie kann dieser Krieg historisch, völkerrechtlich, kulturell verstanden werden? Diesen Fragen widmet sich die aktuelle Ausgabe von Forschung & Lehre.

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