Ein Auto ist komplett eingeschneit und  kaum noch zu erkennen.
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Klimawandel
Zeitnaher Kollaps des Nordatlantik-Stroms erwartet

Eine aktuelle Studie prognostiziert einen früheren Kipp-Punkt des Nordatlantik-Stroms. Neues physikbasiertes Frühwarnsystem entwickelt.

27.02.2024

Laut einer niederländischen Studie, die kürzlich bei "ScienceAdvances" veröffentlicht wurde, könnte die Meeresströmung namens "Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation" (AMOC), die das weltweite Klima in hohem Maße reguliert, früher versiegen als bisher erwartet. Die Analyse-Ergebnisse seien zum ersten Mal mit einer globalen Klima-Modell-Simulation erzielt worden, welche die Stabilitätskurve des Stroms darstellen könne. 

Bereits in einer dänischen Studie aus dem letzten Jahr wurde von Forschenden um Professorin Susanne Ditlevsen und Professor Peter Ditlevsen vom Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen vorhergesagt, dass der Nordatlantik-Strom weniger stabil ist als vermutet und mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit bereits im Zeitraum 2025-2095 kollabiert: "Wir prognostizieren mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass das Kippen bereits Mitte des Jahrhunderts stattfinden wird (2025–2095 ist eine Konfidenzspanne von 95 Prozent)." Die Antwort der Fachwelt kam prompt, die Studie wurde stark kritisiert. Viele Forschende hielten die Vorhersagen auch aus methodischen Gründen für nicht haltbar, so die Deutsche Presseagentur.  

Laut Stefan Rahmstorf, Forscher am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam, habe die Simulation des niederländischen Forschungs-Teams insgesamt sechs Monate gedauert und sei mit dem schnellsten Hochleistungsrechner der Niederlande durchgeführt worden. Er hat das Modell gegenüber dem Deutschlandfunk erläutert. Er beurteilt die Modell-Simulation im Interview deshalb als herausragend im Vergleich zu bisher durchgeführten Prognose-Berechnungen mit geringerer Rechnerleistung. 

Versiegen des Nordatlantikstroms bedeutend für globales Klima 

Das weltweite Klima würde sich gemäß des niederländischen Analyse-Modells bereits in diesem Jahrhundert drastisch ändern. "Die nördliche Hemisphäre zeigt kühlere Temperaturen nach dem AMOC-Kollaps, während das Gegenteil für die südliche Hemisphäre gilt, obwohl sich nicht alle Veränderungen signifikant unterscheiden", heißt es dazu in der Studie. Dass die Erwärmung durch den Klimawandel die Abkühlung nach einem AMOC-Kollaps aufheben könnte, sei nicht zu erwarten. 

"Die nördliche Hemisphäre zeigt kühlere Temperaturen nach dem AMOC-Kollaps, während das Gegenteil für die südliche Hemisphäre gilt."
Zitat aus der Studie "Physics-based early warning signal shows that AMOC is on tipping course"

Klimafolgenforscher Rahmstorf erklärt im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, dass gemäß der niederländischen Studie in Nordwesteuropa die Temperaturen um 2-3 Grad pro Jahrzehnt innerhalb der nächsten hundert Jahre absinken könnten. "Im Vergleich zum heutigen globalen mittleren Trend der Oberflächentemperatur (aufgrund des Klimawandels) von etwa 0,2 Grad pro Jahrzehnt können keine realistischen Anpassungsmaßnahmen mit solch schnellen Temperaturänderungen unter einem AMOC-Kollaps umgehen", fasst die Studie den geringen Reaktionsspielraum auf eine solch rasche klimatische Entwicklung zusammen. 

Klima-Experte Rahmstorf geht von massiven und fundamentalen Klimafolgen mit "nie dagewesenen Extremwetter-Ereignissen" insbesondere in Europa aus, sollten diese Prognosen zutreffen. Er erwähnt Beispiele für immense Folgen wie die "Zerstörung der Landwirtschaft" in Nordeuropa, einen enormen Meerwasserspiegelanstieg an der amerikanischen Atlantikküste sowie Dürrezustände und Überschwemmungsprobleme in den derzeitigen Tropengebieten. 

Studien mit Extremprognosen unter Forschenden teils umstritten 

Grundsätzlich verlagert die AMOC – ganz grob gesagt – Wärme aus dem Süd- in den Nordatlantik und trägt so zu einem vergleichsweise milden Klima in West- und Nordeuropa bei. Ob und unter welchen Umständen dieses Strömungssystem kollabieren könnte, wird in der Fachwelt laut dpa intensiv diskutiert. Demnach mehren sich jedoch die Hinweise, dass dies sowohl möglich ist, als auch wahrscheinlicher wird. Die oben beschriebene Erdmodell-Simulation wurde von mehreren Fachleuten als solide eingestuft, es gab aber auch Kritik an bestimmten Annahmen der niederländischen Gruppe.

Derartige Ergebnisse, wie sie die dänische und die niederländische Studie hervorgebracht haben, erregen unter Forschenden großes Aufsehen, da sie eine recht dünne Datenbasis haben. So kritisiert Professor Niklas Boers von der Technischen Universität München, der selbst intensiv zu einer Abschwächung der Umwälzzirkulation im Atlantik forscht, dass im dänischen Modell bestehende Unsicherheiten nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Die Arbeit mache viel zu vereinfachende Annahmen, um die zukünftige Entwicklung der AMOC allein aus historischen Daten vorherzusagen, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Andererseits schreiben die niederländischen Forscher um Doktor René van Westen, Meeresforscher an der Universität Utrecht, über die Erkenntnisse der dänischen Kollegen: "Ihre Schätzung des Kipppunkts könnte richtig sein." 

"Wir wissen nicht, ob und wann ein solcher Kollaps kommt, ob in 50, 100 oder 1.000 Jahren"
 Professorin Johanna Baehr, Leiterin Klimamodellierung am Institut für Meereskunde, Universität Hamburg

Professorin Johanna Baehr, Leiterin Klimamodellierung am Institut für Meereskunde der Universität Hamburg, betont im Gespräch mit der dpa die Unsicherheiten einer Prognose: "Wir wissen nicht, ob und wann ein solcher Kollaps kommt, ob in 50, 100 oder 1.000 Jahren". Baehr sagt aber mit Blick auf die niederländische Studie auch: "Die Möglichkeit eines Kollapses lässt sich nun nicht mehr völlig von der Hand weisen." Aufgabe der Wissenschaft sei es nun, einen möglichen Zeitrahmen immer weiter einzugrenzen. 

Für viele Forschende Weltklimarat das Maß der Dinge 

Für Baehr ist weiterhin der sechste Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) das Maß der Dinge. Darin heißt es: Die AMOC werde im Laufe des 21. Jahrhunderts – unabhängig vom Klimaschutz-Szenario – sehr wahrscheinlich abnehmen. Zudem sei man sich relativ sicher (medium confidence), dass das nicht zu einem Kollaps vor dem Jahr 2100 führt. Sowohl die dänische als auch die niederländische Prognose widersprechen den jüngsten Einschätzungen des Weltklimarats (IPCC). 

 Dieser Artikel wurde am 27.2. um 11:00 Uhr aktualisiert. Erstmals veröffentlicht wurde er am 21.2.2024. 

Hintergrund "Weltklimarat" & Schwerpunkt "Klimawandel"

Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – meist Weltklimarat genannt – ist eine Institution der Vereinten Nationen. Im Auftrag des Weltklimarats tragen zahlreiche Fachleute weltweit regelmäßig den aktuellen Kenntnisstand zum Klimawandel zusammen und bewerten ihn aus wissenschaftlicher Sicht. Der IPCC bietet Grundlagen für wissenschaftsbasierte politische Entscheidungen. Er zeigt unterschiedliche Handlungsoptionen und deren Implikationen auf, ohne jedoch konkrete Lösungswege vorzuschlagen oder Handlungsempfehlungen zu geben.

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cva