Archiv-Bild einer Promotion an der Universität Altdorf (Bayern), 17. Jhd.
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Geschichte von Dissertation und Promotion
Wissenschaft, Praxis und Prestige

Welche Rolle wurde dem Doktortitel über die Jahre zugeschrieben? Ein Interview mit Historiker Dr. Ulrich Rasche über Höhen und Tiefen der Promotion.

Von Felix Grigat 08.04.2018

Forschung & Lehre: Seit wann gibt es eigentlich Dissertationen an den deutschen Universitäten?

Ulrich Rasche: Seit dem 16. Jahrhundert. Zu dieser Zeit galt allerdings nicht die Dissertation, sondern die Teilnahme an einer Disputation, also an einem gelehrten mündlichen Streitgespräch in lateinischer Sprache, als Kern der Prüfungsleistung eines Promovenden. Dissertationen entwickelten sich aus öffentlichen, in der Regel gedruckten Ankündigungen der in solchen Disputationen von den Kandidaten zu verteidigenden Thesen. Sie entstanden aus der Verschmelzung der Thesen mit deren Erörterung (lat. dissertatio) in Form einer kleinformatigen lateinischen Druckschrift im Umfang von etwa zwanzig bis dreißig Seiten. Es war anfangs nicht Aufgabe des Disputanten, die von ihm zu verteidigenden Thesen aufzustellen, und es war zu keinem Zeitpunkt seine Sache, die Disputation anzukündigen. Aus diesen Gründen lag die Verantwortung für die Dissertation auch nicht beim Disputanten, sondern bei demjenigen Professor, der die Disputation durchführte.

F&L: Bedeutet das, dass die Dissertationen des 16. bis 18. Jahrhunderts gar nicht von den Promovenden, sondern von den Professoren verfasst worden sind?

Ulrich Rasche: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Der Anteil der Professoren an der Dissertation reichte von der Überarbeitung vorgelegter Texte über die Ausformulierung von Entwürfen bis hin zur alleinigen Abfassung. Für ihre Mühen durften die Professoren statutarisch festgelegte Geldbeträge von den Kandidaten fordern. Es gab in der Frühen Neuzeit viele Professoren, die weit über hundert Dissertationen herausgebracht haben. Darunter waren übrigens auch solche, auf denen sich Kandidaten dezidiert als "Autor" bezeichnet haben, obwohl sie vollständig aus der Feder eines Professors stammten. Im Übrigen sind Dissertationen nicht nur anlässlich von Promotionen entstanden. Die meisten der zu Tausenden in unseren Bibliotheken überlieferten alten lateinischen Dissertationen gehen vielmehr auf nicht mit Graduierungen verbundene Disputationen zurück, an denen Studenten für gewöhnlich gegen Ende ihres Studiums teilnahmen. Die über solche Abschlussdisputationen angefertigten Dissertationen dienten den Studenten als materielle und später auch jederzeit vorzeigbare Zeugnisse für ein erfolgreiches Universitätsstudium. Deshalb waren sie so begehrt.

F&L: Wie war das Niveau der alten Dissertationen?

Ulrich Rasche: Durchaus hoch, teilweise sehr hoch und insgesamt gesehen jedenfalls höher als das durchschnittliche Bildungsniveau der Kandidaten bzw. Disputanten. Diese profitierten gewissermaßen von der Multifunktionalität der Dissertationen, die sie ja schließlich auch bezahlten. Dissertationen fungierten in der Frühen Neuzeit nämlich nicht nur als Prüfungselement bei Promotionen oder gelehrte Quasi-Zeugnisse für Studenten. Sie galten als das Leitmedium wissenschaftlicher Publikation überhaupt. Als solches waren sie eben auch ein eminent wichtiger öffentlicher Indikator für das gelehrte Niveau der auf ihren Titelblättern ebenfalls genannten Professoren, Fakultäten und Universitäten. Als es im späteren 18. Jahrhundert allmählich darum ging, die Funktionen zu differenzieren, und die Forderung aufkam, dass Studenten ihre Dissertationen selbst verfassen sollten, lautete denn auch das aus heutiger Sicht befremdliche, aber der multifunktionalen Logik frühneuzeitlicher Dissertationen durchaus entsprechende Gegenargument eines Jenaer Juraprofessors (der begreiflicherweise auch seine Einkünfte aus der Arbeit an den Dissertationen retten wollte): Es würde dem Renommee der Universitäten schweren Schaden zufügen, wenn man die Verantwortung für Dissertationen professionellen Händen entzöge und sie gänzlich Amateuren überließe. Das war aber die Zukunft und für lange Zeit entsprechend düster auch das Resultat.

F&L: Sie meinen das 19. Jahrhundert? Wie entwickelte sich das Promotionswesen in dieser Zeit?

Ulrich Rasche: Eindeutig diametral zu dem, was man aufgrund des Wandels der angeblich im Standesdünkel erstarrten "verzopften" frühneuzeitlichen Universitäten zur sogenannten "Forschungsuniversität" und angesichts des immer wieder aufs Neue beschworenen Mythos über die Humboldtsche Universitätsreform erwarten könnte. Das 19. Jahrhundert war vielmehr das Jahrhundert der "deutschen Pseudodoktoren". So brandmarkte jedenfalls der Berliner Professor Theodor Mommsen in der Presse jene Tausende von Kandidaten, spätere Lehrer, Pfarrer, Juristen, Techniker, Freiberufler, Kleinunternehmer, Apotheker etc., die ihre Doktortitel entweder per Post aufgrund eingeschickter, zumeist handgeschriebener und wissenschaftlich vollkommen belangloser Aufsätze (Promotion in absentia) oder einer per Tagesanreise erledigten laschen mündlichen Prüfung gegen Erlegung der Promotionsgebühren erwarben. Freilich war dieser "Schandlohn" für die von Mommsen wegen solcher Promotionspraktiken als "Winkeluniversitäten" geradezu stigmatisierten Universitäten in Jena, Rostock, Gießen oder Heidelberg überlebenswichtig. Sie mussten mit ihrem in hohem Maße auf studentische Gebühren und Honoraren basierenden und nun veralteten Finanzierungsmodell der Frühen Neuzeit in einer Zeit mit anderen Universitäten konkurrieren, in der je länger je mehr der Erfolg der Universitäten von dem finanziellen Engagement des jeweiligen Staates abhing. Letztlich war es dessen Versagen, das sie zwang, alternative Finanzquellen zu erschließen, ihre Promotionsnormen drastisch zu senken und deutschlandweit Kandidaten zu rekrutieren. Diese setzten sicherlich nicht zu Unrecht darauf, dass das enorme Prestige eines wie auch immer erworbenen Doktortitels in der prosperierenden Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ihren sozialen Aufstieg und ihre beruflichen Karrieren entscheidend begünstigte. Den unterfinanzierten Universitäten wiederum gelang es tatsächlich, mit den Promotionsgebühren von Kandidaten, die keine wissenschaftlichen Ambitionen hatten und in den allermeisten Fällen zu wirklich wissenschaftlichen Leistungen auch gar nicht im Stande waren, das Einkommen ihrer Professoren so aufzustocken, dass sie gerade noch wettbewerbsfähig blieben und ein mittleres Niveau an Forschung und Lehre bieten konnten.

F&L: Mommsens Pressekampagne haben Sie ja schon erwähnt. Welche Maßnahmen hat Preußen noch ergriffen, damit preußische Studenten auch wieder an preußischen Universitäten promovierten?

Ulrich Rasche: Richtig, das war ein Hauptanliegen. Immerhin lag fast die Hälfte der deutschen Universitäten auf preußischem Staatsgebiet. Mommsens Attacke diente der Mobilisierung der Öffentlichkeit. Sie erzeugte tatsächlich immensen Druck. Fakultäten, die diesem Druck nicht erlagen, wurden mit einem am 7. März 1877 publizierten Erlass des preußischen Kultusministeriums über die "Beilegung oder Versagung des philosophischen Doctor-Titels im amtlichen Verkehr" diszipliniert. In Preußen durften fortan nur noch diejenigen den philosophischen Doktortitel führen, die ihn aufgrund der in Preußen herrschenden Normen (mündliche Prüfung, gedruckte Dissertation) erwarben. In der Folge kam es deutschlandweit sukzessive zur Abschaffung der berüchtigten Promotion in absentia und zur Einführung des Druckzwangs für Dissertationen.

F&L: Warum war der Druckzwang so wichtig?

Ulrich Rasche: Ganz sicher nicht, weil man glaubte, der wissenschaftliche Wert von Dissertationen sei so hoch, dass man deren Ergebnisse durch den Druck verbreiten müsste. Auf diese Idee wäre im 19. Jahrhundert wirklich niemand gekommen. Druckzwang bedeutet Kontrolle des Promotionswesens durch Öffentlichkeit und Fachwissenschaft. Der Publikationszwang war und ist das effektivste Mittel zur Qualitätssicherung von Dissertationen. Gewissenmaßen ex negativo zeigen dies die juristischen Dissertationen der Fakultäten in Jena, Leipzig und Heidelberg, die sich mit haarsträubenden Argumenten noch bis gegen 1900 hartnäckig dem Druckzwang widersetzten. Dadurch konnten sie nämlich verbergen, dass sie Tausende von wissenschaftlich vollkommen wertlosen Staatsexamensarbeiten als Dissertationen anerkannten. Auch in diesem Fall ging es darum, die Kandidatenströme aus ganz Deutschland auf sich zu lenken, den Professoren durch Promotionsgebühren hochbegehrte Zusatzverdienste zu verschaffen und so, etwa auch auf dem Berufungsmarkt, konkurrenzfähig zu bleiben. Für das Promotionswesen hatten solche ökonomische Kausalitäten, die in unserer universitätsgeschichtlichen Tradition eine viel zu geringe Rolle spielen, tiefgreifende Folgen. In wissenschaftlicher Hinsicht waren die allermeisten Promotionen nicht nur beispielsweise der sogenannten 'Gymnasialprofessoren' des 19. Jahrhunderts, sondern auch die der juristischen Elite der deutschen Kaiserzeit neudeutsch gesprochen Fakes.

F&L: Was waren im 20. Jahrhundert die wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Promotion von heute?

Ulrich Rasche: Während der Druckzwang aus Kostengründen in den Kriegs- und Krisenzeiten des 20. Jahrhunderts mehrmals ausgesetzt werden musste, hat ein Erlass des Reichs- und preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 11. September 1935 ein zentrales Problem auf Dauer gelöst. Dieser Erlass wies die noch bestehenden Promotionsgebühren in Gänze der Universitätskasse zu. Er entzog die Promotion damit dem Sog professoraler Amtsvergütung, der zu allen Zeiten eine der Hauptursachen für die Verformungen des Promotionswesens und auch das wesentliche retardierende Moment für die Promotionsreform des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Ferner hat die Einführung des Magistergrads in den Jahren bis ca. 1960 und zuvor schon des Diplomabschlusses dazu geführt, dass der stets auf den Universitäten lastende Druck, alternativ zu den Staatsexamina auch akademische Abschlussgrade vergeben zu müssen, nicht mehr allein auf der Promotion lag. Mit Ausnahme der medizinischen Fakultäten konnten die fachlichen Anforderungen an die Dissertation nun steigen. Zuletzt haben die vielfältigen Möglichkeiten der Promotionsförderung den Kandidaten die nötige Zeit für die Anfertigung ihrer Dissertation verschafft. Seit etwa den 1970er Jahren haben die Dissertationen ein Niveau erreicht, das es in Deutschland nie zuvor gegeben hat und das auch international nicht selten die Spitze dessen markiert, was junge Forscher leisten können. Im Zuge dieser Entwicklung hat der Publikationszwang eine weitere Funktion bekommen: er stellt nun zugleich sicher, dass Forschungsergebnisse von Dissertationen bekannt und rezipiert werden können.

F&L: Inwiefern sind medizinische Promotionen als Ausnahme zu betrachten?

Ulrich Rasche: Im Gegensatz zu allen anderen Fakultäten entwickelte sich an den medizinischen Fakultäten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein förmlicher Promotionszwang, aus dem im späteren 19. und 20. Jahrhundert ein nicht minder wirksames informelles Promotionsgebot wurde. Diese Entwicklung ist keinesfalls das Resultat einer Verwissenschaftlichung des Medizinstudiums, wie man vielleicht denken könnte. Sie ist vielmehr eine Begleiterscheinung des sich um 1800 allmählich zuspitzenden Konkurrenzkampfes der zunächst vergleichsweise wenigen praktizierenden studierten Ärzte mit der größeren Gruppe der Handwerkschirurgen und der noch viel größeren Schar sonstiger Heiler ("Kurpfuscher", "Quacksalber") um Marktanteile und Vorherrschaft im Medizinalwesen. Nicht etwa höhere Heilungsquoten, sondern Herrschaftsnähe, Instrumentalisierung der Druckmedien sowie nicht zuletzt das durch den obligatorischen Doktortitel maßgeblich verstärkte Prestige von Studium und Gelehrsamkeit entschieden diesen Kampf zugunsten der studierten Ärzte, bereits bevor die wissenschaftliche Medizin tatsächlich den öffentlichen Gesundheitssektor revolutionierte. Die medizinischen Fakultäten – zuerst und schon gegen Ende des 18. Jahrhundert die Fakultäten in Jena, Göttingen und Halle – reagierten auf den nun in landesherrlichen Medizinalordnungen für die ärztliche Approbation vorgeschriebenen Promotionszwang mit veränderten Angeboten. Sie entrümpelten ihre Prüfungsordnungen und senkten vor allem das für eine medizinische Promotion geforderte Niveau auf ein Maß, das jeder Student erfüllen konnte. Gleichzeitig reformierten sie das Medizinstudium. Sie bildeten nun nicht mehr Buchgelehrte, sondern praktische Ärzte aus, die sie gleichwohl alle mit dem Stempel der Gelehrsamkeit versahen. Diese letztlich nicht überbrückbaren Spannungen zwischen Wissenschaft, Praxis und Prestige kennzeichnen das Niveau der medizinischen Promotionen bis heute.