Symbolbild für Cyberkriminalität: Eine Lupe vergrößert einen Fingerabdruck zwischen Nullen und Einsen auf einem Bildschirm
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Forensik-Studium an der Hochschule Mittweida
Blut und Daten im Dienste der Wissenschaft

Forensik ist nichts für schwache Nerven. Bei der Aufklärung von Verbrechen lassen sich nur mit akribischer Arbeit alle Spuren einer Tat ermitteln.

19.07.2023

Eine junge Frau sitzt auf dem Fensterbrett einer Wohnung in der fünften Etage und stürzt kurz darauf in den Tod. Später findet man in ihrem Blut einen hohen Gehalt an Alkohol und auch Drogen. Doch ist sie tatsächlich Opfer von Unvorsichtigkeit geworden? Oder hat eine andere Person sie absichtlich geschubst? In der Hochschule Mittweida wird der authentische Fall analysiert. Zwei Frauen und zwei Männer aus dem Studiengang "Allgemeine und Digitale Forensik" suchen nach Spuren. Professor Dirk Labudde, Jahrgang 1966, hört zu, stellt Fragen und hinterfragt Thesen der Studierenden.

Seit 2014 werden in Mittweida in diesem Fachgebiet Studierende aus ganz Deutschland und dem deutschsprachigen Raum ausgebildet. Zum ursprünglichen Bachelor-Studiengang kamen inzwischen ein Master für Cybercrime/Cybersecurity und zwei weitere Angebote hinzu. Für alle zusammen bewerben sich pro Semester etwa 300 junge Leute, in der Forensik sind es 130 bis 140, etwa je zur Hälfte Frauen und Männer. Die Abbrecherquote liegt bei 38 Prozent. Die Frauen schnitten im Schnitt besser ab, sagt Labudde. "Man braucht eine Ader dafür, man muss sich durch manche Fälle auch quälen können."

Digitale Forensik hilft bei der Aufklärung von Verbrechen

Der Wissenschaftler räumt ein, dass sich die digitale Forensik erst gegen Vorbehalte durchsetzen musste. "Am Anfang waren wir die Irren und Verrückten." Doch nach mühevoller Arbeit werde man nun anerkannt. Das drückt sich auch in all den Gutachten aus, die Labudde und seine Mitstreiter inzwischen als Experten in Gerichtsprozessen vorgetragen haben. "Aktuell haben wir sechs Fälle auf dem Tisch, die werden im Team bearbeitet", erzählt der Professor. Bei Pro-bono-Fällen – der kostenlosen Weitergabe von Expertise für das Gemeinwohl – wirken auch Studierende mit.

In einem Fall geht es derzeit um wiederholte Überfälle auf verschiedene Spielotheken. "Da haben wir nur schlechtes Videomaterial, eigentlich sind nur die Jacken und Hosen zu sehen", sagt Labudde. Oft gehe es bei Videoanalysen um das Feststellen von Personen. "Seit mehr als 100 Jahren läuft der Hase hinter dem Igel her oder umgekehrt", schildert der Experte den Wettlauf zwischen Kriminellen und Ermittlern. Immer wieder stellten sich Täter neu ein. "Viele vermummen sich, da hat man keine ordentlichen Bilder." Ohnehin komme Videomaterial nicht in HD-Qualität auf den Tisch.

Labudde zufolge kann die digitale Forensik dabei helfen, die Aufklärung von Straftaten mit komplizierter Spurenlage zu verbessern. Ein perfektes Verbrechen gebe es nicht, doch häufig würden die richtigen Methoden zu einer Überführung des Täters fehlen. "Der Fingerabdruck war eine Revolution, die DNA-Analyse eine andere." Täter versuchten deshalb, mit Handschuhen zu arbeiten und keine Hautpartikel für die DNA zu hinterlassen. Doch schon der französische Arzt Edmond Locard (1877-1966) habe festgestellt, dass Interaktionen nie spurlos bleiben, auch wenn es nur Mikropartikel sind.

Informatik liefert neue Techniken für die Forensik

"Wir müssen uns stets neuer Methoden anderer Wissenschaftsbereiche bedienen", sagt Labudde. Die größten Fortschritte habe man zuletzt in der Rechtsmedizin gemacht. Moderne Bildgebung ermögliche es heute, in den Leichnam zu schauen und etwa einen Schuss- oder Stichkanal genau zu untersuchen. "Die digitale Forensik ist sozusagen der neueste Schrei." Dabei sei die Sicht auf die Technik höchst unterschiedlich: "Der Täter betrachtet das Handy unter dem Gesichtspunkt, wie er es für seine Tat nutzen kann. Wir betrachten es unter der Maßgabe, welche digitalen Spuren sich daraus verwerten lassen."

"Die digitale Forensik ist sozusagen der neueste Schrei." Professor Dirk Labudde

Michele-Nadine Wagner, in Mittweida für Allgemeine Forensik zuständig, hält den Einzug der Informatik in die Forensik gleichfalls für einen Quantensprung. Viele Tatorte seien zwar "physisch". Doch der Tatort Internet – die Cyberkriminalität – nehme immer mehr zu. Zum anderen helfe Informatik dabei, mit Simulationen Abläufe an analogen Tatorten zu rekonstruieren – so wie beim Mord an der Teufelstalbrücke in Thüringen. 1991 war dort ein zehnjähriges Mädchen von der Autobahnbrücke geworfen worden. Erst nach über 26 Jahren fand man ihren Mörder.

Was lernen Forensik-Studierende über digitale Spuren?

"An einem Tatort lässt sich meist eine Brücke zwischen allgemeiner und digitaler Forensik herstellen. Fast alle Straftaten hängen heute mit etwas Digitalem zusammen", erklärt Leander Hoßfeld. Der 23-Jährige aus Jena hat in Mittweida den Bachelor in Allgemeiner und Digitaler Forensik gemacht und hängt nun noch den Master in Cybercrime/Cybersecurity dran. "Man spricht sich heute für eine Straftat nicht via Brieftauben ab, sondern über Smartphones. Auch für die Planung wird Technik genutzt", sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter. An dem Handy ließen sich außen wie innen Spuren finden.

Für Leute wie Hoßfeld ist der Forensik-Studiengang in Mittweida – mit einem hohen Praxisanteil in dieser Form bundesweit einmalig – wie geschaffen. Schon während seiner Abiturzeit habe er gemeinsam mit seinem Vater die Krimiserie Navy CIS geschaut, erzählt er. "Mir war natürlich klar, dass es in der Forensik nicht wie Navy CIS zugeht. Die Realität sieht anders aus." Heute müsse er manchmal lächeln, wie schnell da im Film Passwörter geknackt werden oder Überwachungskameras glasklare Bilder von Kennzeichen liefern.

Auch in der Forensik gehe es darum, immer größere Datenmengen in kurzer Zeit zu bearbeiten, sagt Hoßfeld und nennt als Beispiel das Vorgehen gegen die Hightech-Täter vom Kinderpornografie-Ring aus einer Gartensparte in Münster. Bei der Analyse von Big Data werden die Ermittler künftig verstärkt auf Künstliche Intelligenz hoffen müssen. Beim sogenannten Textmining etwa geht es darum, sich in großen Mengen unstrukturierter Textdaten zurechtzufinden – etwa bei der Suche nach Hate Speech in Hunderttausenden Twitter-Einträgen.

Wie analysieren Forensiker Blutspuren?

Jetzt geht es im Labor der Forensiker in Mittweida aber erstmal um etwas Handfestes, eine Blutspurenmusteranalyse. Zum Einsatz kommt Schweineblut. In einer kleinen Kabine ist eine Versuchsanordnung aufgebaut. Mit der Analyse sollen Blutspuren an einem Tatort über eine visuelle Erkennung von Mustern ausgewertet werden. Ein Hammer schlägt mit definierter Kraft auf eine Blutlache, aus der sich dann Spritzer an den Wänden der Kabine verteilen. Das Ergebnis wird in einer Datenbank gespeichert, mit deren Hilfe die Analyse von Blutspuren automatisiert werden soll.

Dirk Labudde hat die Analyse unter anderem beim sogenannten Parkhausmord von München angewandt. Im Mai 2006 war die damals 59 Jahre alte Unternehmerin Charlotte Böhringer in ihrer Wohnung erschlagen worden. Am August 2008 sprach das Landgericht München I den Neffen der Frau in einem Indizienprozess für schuldig und verurteilte ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes. Diese Entscheidung war umstritten.

Fälle wie den "Parkhausmord" oder den Sturz von der Teufelstalbrücke 1991 hat Labudde in seinem Buch "Digitale Forensik. Die Zukunft der Verbrechensaufklärung" beschrieben. Jetzt plant er ein neues Buch über eine Tat, an deren Aufklärung er gleichfalls mitwirkte. Im Frühjahr 2020 war im niedersächsischen Landkreis Nienburg die Leiche einer jungen Frau aus der Weser geborgen worden. Der 41 Jahre alte Haupttäter wurde wegen Vergewaltigung, gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen und anderer Straftaten zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Labudde spricht von einem sehr komplexen Verfahren.

Gelöste Fälle schließt Labudde mit einem Ritual ab. Dann genehmigt er sich einen oder auch zwei Martini – weder geschüttelt noch gerührt. In solchen Augenblicken fällt viel Anspannung von ihm ab. Um mehr Durchschlagskraft zu haben, wünscht er sich bessere Zugriffsmöglichkeiten für Ermittler im digitalen Raum. "In der normalen Welt können wir bei Gefahr im Verzug, bei Verdacht auf Terroranschläge oder Mord praktisch mit der Ramme in die Wohnung eindringen. Etwas Vergleichbares brauchen wir auch für Cybercrime."

Jörg Schurig (dpa)