Studierende im Hörsaal
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Wissenschaft als Methode
Die Universität muss lehren, was noch keiner kennt

In der Forderung nach guter Lehre an Universitäten sind sich alle einig. Doch was ist gute Lehre und was bedeutet Lernen in der heutigen Zeit?

Von Volker Ladenthin 21.09.2019

Man könnte versucht sein, die epochemachende Formel von "Forschung und Lehre" additiv zu verstehen, so, als könne es an Universitäten auch Forschung ohne Lehre geben und Lehre ohne Forschung. Beides gibt es zwar, aber nicht als Wissenschaft – und daher sollte es die Trennung auch nicht an der Universität geben. Will man das eine fördern, muss man auch das andere fordern, denn beides hängt kausal zusammen.

Jede Forschung ist auf Lehre angewiesen – sonst wüsste man nicht von ihr. Jeder noch so hochspezialisierte Fachaufsatz ist immer auch zugleich eine Form von Lehre und muss daher die grundlegenden didaktischen Kategorien von Adressatenorientierung, Darstellungsziel, Inhaltsauswahl, Darstellungsmethode und Mediengemäßheit beachten.

Zugleich setzt jede wissenschaftliche Lehre eigenes Forschen voraus, sonst wäre sie Lehre vom Hörensagen. An der authentischen Universität sind Forscher als Dozierende tätig und alle Dozenten haben Anteil an Forschungsprozessen. Die Gründungsväter der modernen Universitäten versprachen sich von dieser Konzeption, dass jede Forschung sich verbessert, wenn sie sich der zuständigen Öffentlichkeit als "Prüfstein" (Kant) aussetzen muss.

"Gute Lehre ist wissenschaftlich anregend."

Und dass sich jede Lehre verbessert, wenn sie ihre Autorität  nicht aus der sozialen Rolle des Lehrenden zieht, sondern aus der Sache selbst: "Überhaupt lässt sich die Wissenschaft als Wissenschaft nicht wahrhaft vortragen, ohne sie jedesmal wieder selbsttätig aufzufassen, und es wäre unbegreiflich, wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stoßen sollte", schreibt Wilhelm von Humboldt in seinem Aufsatz "Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin" (1810).

Jeder, der akademisch lehrt, wird diese Erfahrung bestätigen. Gute Lehre ist wissenschaftlich anregend. Und wer forscht, möchte sich mitteilen. Denn wissenschaftliche Lehre bedeutet die reflektierende Darlegung der Forschungsmethode als Generierung von Erkenntnissen. An der Universität sind Forschung und Lehre zwei Seiten derselben Sache, nämlich der Sache der Wahrheit.

Die Moderne: Etwas gilt, weil es methodisch begründbar ist

Im historischen Vergleich wird diese revolutionäre Eigenheit moderner universitärer Lehre besonders deutlich. Vormoderne Erkenntnis war teleologisch ausgerichtet. Die Platonsche Ideenlehre und die Aristotelische Entelechie belegen dies ebenso wie die christliche Dogmatik der Kirchenväter: "Es gibt gewisse Regeln, die man meines Erachtens einem, der sich mit dem Schriftstudium befaßt, nicht ohne Nutzen mitteilen kann.

Man tut sich dann leichter, sowohl bei der Lektüre solcher Autoren, die den in den göttlichen Schriften ruhenden Wahrheitssinn bereits erschlossen haben, als auch dann, wenn man ihn andern seinerseits wieder erschließen soll. Diese Regeln nun will ich denen übermitteln, die sie kennen lernen wollen und sollen", schreibt Augustinus im Vorwort zu seiner Wissenschaftslehre "De doctrina christiana" (397/426). Erkenntnis war der Nachvollzug einer vorausgesetzten, schon vorab als sinnvoll aufgefassten Wahrheit. Lehre war nach diesem Verständnis die Aufdeckung der bereits existierenden und lediglich verborgenen Wahrheit. Lernen als Nachvollzug: Zuhören, memorieren, referieren, kommentieren.

Mit der Wahrheit zugleich werden ihr Sinn und ihre sittliche Bedeutung gelehrt. Der Lehrende hat Autorität, weil er an dieser Wahrheit bereits teilhat. Weil es diese Wahrheit manifest gibt, kann man die Autoren, die an ihr teilhaben, kanonisch im "Lehrplan des Abendlandes" (Josef Dolch) als die "Sieben freien Künste" tradieren. Die kanonischen Texte werden kommentiert. Erkanntes wird doziert, also möglichst so gelehrt, wie es "eigentlich" gemeint war.

Erst Galilei wird sich gegen diese Lehrform und das Argument, seine Ergebnisse widersprächen aber der Lehre des Aristoteles, wehren. Sein epochemachendes Argument: Er bezweifele ja nicht, dass Aristoteles dergleichen gesagt habe; aber er bezweifele, dass es wahr sei, was Aristoteles gesagt habe.

Mit dieser Unterscheidung beginnt die Moderne: Etwas gilt nicht, weil eine Autorität es gesagt hat, sondern es gilt, weil es methodisch begründet ist. Wahrheit wird nicht mehr material vorausgesetzt. Vielmehr wird Wahrheit als regulative Idee angesehen, als Anspruch, unter dem alles steht, was man Erkenntnis nennen will. Wissenschaft wird nicht mehr als Weitergabe von Wahrheit verstanden, sondern als Suche nach Erkenntnis unter dem Anspruch von Wahrheit: Forschung.

Damit diese Suche weder dogmatisch wird, noch nur Meinung ist, bezieht man sich auf Verfahren, die intersubjektiv gültig oder zumindest konsensual anerkannt sind – die Methode: Wenn Quecksilber sich in einem bestimmbaren Maße ausdehnt, nennt man dies ein Grad.

Diese epistemische Veränderung, nach der Erkenntnis sich selbst jedes Mal methodisch bewähren muss, verändert auch die universitäre Lehre – und zwar grundlegend. Denn nun gilt nicht etwas, weil eine Autorität es gesagt hat, sondern von nun an gilt etwas nur, wenn jeder das hypothetische Wissen an jedem Ort zu jeder Zeit nachprüfen kann. Und daher besteht alle wissenschaftliche Lehre in der Darlegung, mit welcher Methode man zu Ergebnissen gelangt ist, die Geltung beanspruchen wollen.

Wissenschaft ist Methode. Lernen heißt dann, etwas auf seine Geltung hin prüfen. Die Methode ist Lehrendem und Lernendem gleich zugänglich. Die Bedeutung der Erkenntnisse kann nun nicht von der Forschung selbst festgelegt werden, wie in der teleologischen Konzeption in Antike und Mittelalter: Abgesicherte Forschungsergebnisse bleiben wahr, auch wenn sie völlig zwecklos sind.

Über die Zwecke der Forschungsergebnisse wird in einem eigenen Diskurs reflektiert, der von der Gesellschaft, der Ökonomie oder der Politik (oft mit Macht und Geld) reguliert wird. Diese Reflexionen sagen nichts über die Qualität von Forschung aus – wohl aber über den Nutzen für Teilpraxen. (So kann ökologisch schädlich sein, was politisch als sinnhaft angesehen wurde – die Forschungen um die Atombombe belegen dies exemplarisch.)

Universitäre Lehre kann also nicht nur auf gefällige Art Forschungsergebnisse mitteilen und Absolventen ausbilden; sie muss sich zudem einer Reflexion auf die Grundlagen, die Methoden und mögliche Zwecke stellen und so Absolventen bilden.  Universitäres Lernen heißt also nichts anderes als Erkennen, indem man methodisch prüft. Diese Fähigkeit lässt sich nicht lernpsychologisch in Teilkompetenzen aufgliedern und isoliert schulen – weil gerade die fachspezifische Zusammensetzung von Fähigkeiten ihre wissenschaftliche Qualität ausmacht. Juristen und Germanisten müssen zwar beide mit Texten umgehen können, aber auf spezifische Art, die die Fachexzellenz allererst herstellt.

Lehre als Denkanstoß

Die Debatte, ob an Universitäten Wissen oder Kompetenzen gelehrt werden sollen, verkennt grundlegend (und tragisch) die Eigenheit moderner Wissenschaft und ihrer Lehre. Es gibt kein modernes wissenschaftliches Wissen, dass nicht zugleich die Methode darlegen müsste, mit der es erarbeitet wurde. Und wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen ausschließlich durch Anwendung der zur speziellen Wissensgenerierung notwendigen Methoden: Ob eine Münze der Kaiserzeit des Augustus oder der Konstantins zuzuordnen ist, lässt sich nicht durch Teamfähigkeit oder fachneutrale Problemlösungskompetenz herausfinden, sondern nur durch chemische Analysen und historisch-kritische Methoden der Numismatik bestimmen.

Sekundärtugenden (Ich- und Sozialkompetenzen) können Forschungsprozesse sozialverträglich begleiten, bringen Forschungsergebnisse aber nicht hervor. Und Sachkompetenz besteht ausschließlich im Methodenbewusstsein. Fachneutrale und psychologische Lerntheorien mögen vielleicht darauf hinweisen, dass die Schrift bei der Power-Point-Präsentation lesbar sein muss, die Konzentrationsfähigkeit bei den meisten Menschen nach etwa einer Stunde nachlässt und der Vorlesungs- oder Seminarraum gut gelüftet sein sollte. All dies sind nützliche Tipps, um das Lernen angenehm zu gestalten.

Aber die hochschuldidaktischen Fragestellungen liegen ganz woanders.Sie liegen in der Frage, durch welche gegenstandskonstituierenden Methoden ein Fach sich so darstellen kann, dass Studierende lernen, es zu verbessern. Wissenschaftliche Lehre soll nicht das Bekannte "vermitteln" (das Bekannte steht ja in Handbüchern, im Internet und kann jederzeit selbstständig angeeignet werden), sondern wissenschaftliche Lehre soll ein Fach so darstellen, dass der Studierende das Bekannte erweitern kann.

Allein dazu braucht man Forscher. Lehre angesichts von Forschung meint nicht nur argumentative Bewährung des Bekannten, sondern die Aufforderung, das Bisherige besser zu denken. Wenn dieser Impetus fehlt, kann man nicht mehr von universitärer Lehre sprechen – sondern sollte es als das bezeichnen, was es ist: verschulter Unterricht. An der Universität lehrt man Wissen so, dass die Erweiterungsfähigkeit das Lernziel ist: Lehre als Forschungsanstoß.

Daher unterliegen Dozenten und Studenten dem Anspruch, dass Lehre die Aufforderung zum methodisch kontrollierten Prüfen von Hypothesen ist – und zwar unter der Maßgabe, dass es in der Wissenschaft zwar einen gültigen "state of the art", aber keine endgültigen Wahrheiten gibt. Jedes Erkennen (und Lernen ist Erkennen) steht unter Wahrheitsanspruch, ist also stets zu verbessern. Der Studierende ist nicht der zu Belehrende, sondern er wird zum Adressaten in einem Dialog, in dem es um das bessere Argument geht. In jedem Erstsemester kann ein Einstein studieren. Darauf setzt man als Lehrender.  

Erforschung des bisher ­Unbekannten

Daher taugen Unterrichtsmethoden, die an Schulen erprobt wurden, selten für die Universität: Schüler lernen das bereits Erforschte. Studenten hingegen nehmen Teil an jenem Prozess, der sich nicht lehren, sondern nur erproben lässt: an der Erforschung des bisher Unbekannten.
Universitäre Lehre besteht daher darin, zu lehren, was sich nicht lehren lässt, weil es noch nicht bekannt ist. Ein Paradox. Das Paradox löst sich immer dann, wenn Forschung sich argumentativ mitteilt und Lernen zugleich Infragestellen wird. In der komplementären Einheit von Forschung und Lehre.

Wenn hingegen universitäre Lehre lediglich als gefällige Weitergabe von Erkanntem konzipiert wird, verfehlt diese Lehre ihren universitären Charakter. Jede Vorlesung, jedes Seminar muss vielmehr unter der Idee gestaltet werden, dass die Lehre Aufforderung zum Forschen ist – beim Dozenten und beim Studenten. Universitäre Lehre soll nicht Ergebnisse der Forschung präsentieren, sondern Probleme der Forschung herausfinden. (Das man dazu die Erträge der Forschung kennen muss, um nicht zum zweiten Mal das Ohmsche Gesetz zu entdecken, versteht sich in der Forschung von selbst.) Sie muss nicht Erkanntes, sondern das Erkennen lehren. Sie muss nicht "vermitteln", sondern auffordern.

Man kann, ermutigt durch Erfahrungen an Elite-Universitäten, die These aufstellen, dass das Niveau universitärer Forschung in Deutschland auf lange Sicht davon abhängt, dass es den Massenuniversitäten gelingt, besonders jene Klientel zu fördern, die für ein solches Studium tatsächlich auch befähigt und motiviert ist. Will man hingegen an Universitäten auch jene schulen, die nur lernen, aber nicht studieren wollen, die schnell und praxisorientiert ausgebildet, aber nicht wissenschaftlich gebildet werden wollen, die im Studium motiviert werden müssen und nicht schon motiviert sind, wenn sie zu studieren beginnen – dann werden Universitäten ihre innovative Kraft kostenintensiv verschwenden.

Evaluationen verfehlen oft Ziele der Universität

Der Sinn der modernen Universität, ihre Bedeutung für das Gelingen der Menschheit, ist, Erkenntnis unter dem Anspruch von Wahrheit anzustoßen – und nicht, massentaugliche Wissensbestände und affirmativ Kulturtechniken praxisorientiert "unter das Volk zu bringen". Das können Computerlehrprogramme, Fernsehdokus und VHS-Kurse preisgünstiger. Universitäre Lehre, die den Sinn der Universität ernst nimmt, entsteht immer aus dem Paradox, das Lernen dessen anstoßen zu müssen, was man nicht lehren kann: Wie man nämlich zu neuen Erkenntnissen gelangt.  Die Universität muss lehren, was noch keiner kennt.

Erst als solche Institution ist sie auch der Gesellschaft langfristig nützlich. Sie ist dann nämlich die einzige Institution einer Kultur, die die gegenwärtige Kultur so betrachtet, dass sie auf vernünftige Weise verbessert werden kann. Bemisst man hingegen den Wert der Wissenschaft danach, was sie zur herrschenden Kultur beiträgt, so erstarren die Universitäten in politischen und sozialen Dogmen und veralten ebenso schnell wie die Automodelle vom letzten Abverkauf.

Nur wenn die Universität die vorherrschende Kultur unter dem Anspruch von Wahrheit transzendiert, trägt sie zur künftigen Kultur und ihrem Gelingen bei. Dass dies möglich wird, entscheidet sich in der Lehre. Sie muss so gestaltet sein, dass sie die nächste Generation auffordert, die Tradition zu prüfen. Universitäre Lehre heißt: das Bekannte unter Geltungsanspruch im Dialog zur Disposition zu stellen.

Ob dies face to face oder elektronisch geschieht, ist hochschuldidaktisch betrachtet so lange völlig unerheblich, wie die Studierenden nicht gesättigt, sondern hungrig aus einer Lehrveranstaltung kommen; nicht belehrt, sondern begierig; nicht zufrieden, sondern beunruhigt. Wer in Evaluationen nachfragt, ob eine Veranstaltung den Erwartungen der Teilnehmer entsprochen und etwas für die Praxis gebracht habe, hat den Sinn universitärer Lehre grundlegend verfehlt: Zu fragen wäre, ob die Teilnehmer fundiert lernen konnten, welche Probleme sie jetzt lösen müssen.