Islamische Religionslehre
Gott interessiert sich nicht für "Überschriften"
Forschung & Lehre: Herr Professor Khorchide, seit 2010 bilden Sie Lehrerinnen und Lehrer in islamischer Religionslehre aus – warum?
Mouhanad Khorchide: Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass der islamische Religionsunterricht an deutschen Schulen flächendeckend etabliert wird. Wir haben 4,3 Millionen Muslime in Deutschland, ein Viertel davon ist im Schulalter. Viele von ihnen haben sich bislang kaum mit ihrem Glauben beschäftigt. Sie können sagen, was sie nicht sind. Sie können sagen, dass sie keinen Alkohol trinken oder kein Schweinefleisch essen, aber nicht, was sie als Muslime auszeichnet. Sie sollen lernen, ihren Glauben zu reflektieren, einen rationalen Zugang zu ihm entwickeln.
F&L: Wie reagieren Sie auf Kritik an der Einführung islamischer Religionslehre an deutschen Schulen?
Mouhanad Khorchide: Es gibt einerseits grundsätzlich Kritik am Religionsunterricht in den Schulen. Es gibt aber auch spezielle Ängste vor islamischem Religionsunterricht, weil manche argumentieren, dass sie nicht wissen, was genau an den Schulen gelehrt wird. Ich vertrete den Standpunkt, dass man die Menschen aufklären und ihnen zeigen muss, warum gerade ein reflektierter Zugang zum Islam in den Schulen jungen Muslimen nicht nur Orientierung gibt, sondern sie über ihren Glauben aufklärt. Ansonsten informieren sie sich über den Islam im Internet. Dabei ist es wichtig, dass der Islam wie jedes andere Schulfach mit entsprechenden Standards gelehrt wird.
F&L: Wer ist an der Erstellung des Curriculums beteiligt?
Mouhanad Khorchide: Die Dozentinnen und Dozenten übernehmen die inhaltliche Gestaltung ihrer jeweiligen Kurse. Unsere Studienkoordinatorin bettet sie in ein Gesamtkonzept ein. Die Vorgaben orientieren sich an den Lehrplänen der Länder für islamischen Religionsunterricht an Schulen. Im Anschluss prüft der muslimische Beirat eines Bundeslandes, ob der Lehrplan gegen Grundsätze des muslimischen Glaubens verstößt – dies war bislang nicht der Fall. Zusammengesetzt ist der Beirat aus Vertretern der muslimischen Verbände, vergleichbar mit der Kirche bei der Gestaltung des christlichen Religionsunterrichts.
F&L: Versuchen muslimische Verbände Einfluss auf die Lehrinhalte zu nehmen?
Mouhanad Khorchide: Nein, auf die Inhalte der Lehre nicht – mit der Ausnahme ihres Vetorechts, falls die Inhalte gegen Grundsätze der islamischen Lehre verstoßen. Dabei geht es nicht um Interpretationen, sondern um klare Grundsätze wie den Monotheismus.
F&L: Inwiefern unterscheidet sich diese Lehre von der in einer Koranschule?
Mouhanad Khorchide: Im theologischen Studium geht es um die rationale Reflexion des Glaubens, nicht darum, absolute Wahrheiten zu verkünden. Es findet eine offene Diskussion statt. In der Koranschule dagegen werden in der Regel sogenannte Wahrheiten verkündet. Natürlich gibt es in der islamischen Theologie wie auch in jedem anderen Fach an der Universität Prämissen, die angenommen werden. Dazu zählt z.B., dass der Prophet Mohammed von Gott gesandt wurde und der Koran ein von Gott inspiriertes Buch ist. Würden wir diese Aspekte bestreiten, würden wir den Islam aus religionswissenschaftlicher und nicht mehr aus bekenntnisorientierter Sicht erforschen.
F&L: Können Atheisten, Nicht-Gläubige, Islamische Religionslehre studieren?
Mouhanad Khorchide: Ja, aber sie dürfen später nicht an Schulen den bekenntnisgebundenen islamischen Religionsunterricht lehren. Das Gleiche gilt für den ebenfalls bekenntnisgebundenen christlichen Religionsunterricht. Dies ist in Deutschland gesetzlich ausgeschlossen. Der Anteil dieser Studierenden ist daher gering. Einzelne entscheiden sich für das Studium, weil sie bspw. eine berufliche Tätigkeit in einem muslimischen Land anstreben und sich dafür über den Islam informieren wollen. Die meisten unserer Studierenden, etwa 95 Prozent, sind jedoch Muslime. Sie wollen mehr über ihre Religion lernen und dies ihren Schülerinnen und Schülern ebenfalls ermöglichen.
Die Studierenden sollen in der Lage sein, den Koran in seinem historischen Kontext [...] zu verorten. Prof. Dr. Mouhanad Khorchide
F&L: Welche Bedeutung haben die öffentlich vieldiskutierten Themen der Rolle der Frau und der Gewalt im Islam?
Mouhanad Khorchide: Beides sind zentrale Themen im Studium, nicht nur, weil sie die Öffentlichkeit und damit auch unsere Studierenden interessieren, sondern weil sie zum Inhalt der islamischen Lehre gehören. Nach einer Einführung in die Grundlagen werden sie anhand von verschiedenen Positionen innerhalb der islamischen Theologie und anhand von Koranstellen diskutiert. Die Studierenden sollen in der Lage sein, den Koran in seinem historischen Kontext, in dem er verkündet wurde, zu verorten, und ein gewaltfreies Glaubensverständnis entwickeln im Sinne der Grundrechte und der Gleichheit zwischen Mann und Frau.F&L: Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie mit einem solchen Verständnis den Koran schlicht "falsch" lesen – leben Sie in einer Wunschvorstellung des Islams?Mouhanad Khorchide: Nein. Erstens stellt der Koran selbst den Anspruch an sich, eine Botschaft der Barmherzigkeit zu sein (Koran 21:107). Zweitens: wenn wir dem Anspruch des Korans gerecht werden wollen, eine Botschaft zu sein, die für alle Zeiten und Kontexte ihre Gültigkeit hat, dann müssen wir ihn historisch-kritisch auslegen, um den Sinn hinter dem Text zu erfassen. Mir blutet das Herz, wenn ich sehe, was manche Muslime aus dem Islam machen.
F&L: Welche Erfahrungen haben Ihren Zugang zum Islam geprägt?
Mouhanad Khorchide: Ich bin in Saudi Arabien aufgewachsen, habe aber viel Zeit im Libanon verbracht. Dabei habe ich schon in meiner Kindheit gemerkt, wie unterschiedlich der Koran ausgelegt wird und doch die Gelehrten da und dort davon überzeugt sind, den "wahren" Islam zu leben. Allerdings gilt leider in beiden Ländern der Grundsatz, dass Nicht-Muslime ungläubig seien. Mein Studienaufenthalt in Wien hat mir die Augen geöffnet: dort habe ich selbst als Nicht-Christ Rechte bekommen, die ich im islamischen Raum nicht hatte. Die vielen offenen Fragen haben mich motiviert, islamische Theologie zu studieren. Heute bin ich überzeugt, dass wir den Exklusivismus, dass also Gott nur uns Muslimen gehört, endgültig ablegen müssen, denn Gott interessiert sich nicht für "Überschriften", sondern der Gläubige muss seinen Glauben durch sein Handeln bezeugen.
F&L: Wie reagieren Studierende auf Ihren Ansatz?
Mouhanad Khorchide: Einige erwarten zunächst zu lernen, wie sie sich noch frommer verhalten, um eine noch "bessere" Muslimin bzw. ein noch "besserer" Muslim zu werden. Aber bald erkennen sie, dass es in der Wissenschaft um rationale Reflexion des Glaubens geht.
F&L: Von welchen gesellschaftlichen Gruppierungen wie Parteien oder Glaubensgemeinschaften erhalten Sie die meisten Anfeindungen?
Mouhanad Khorchide: Definitiv von Salafisten und politischen Islamisten. Beide halten es für schädlich, eine Brücke zu Andersgläubigen zu schlagen, da diese in ihren Augen nur den "unmoralischen Westen" verkörpern. Während politische Islamisten versuchen, mich hinter den Kulissen kleinzumachen, sind Salafisten aggressiver und schicken auch schon einmal eine Morddrohung.
F&L: Die muslimischen Verbände Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) und Zentralrat für Muslime (ZMD) waren unter Ihren stärksten Kritikern. Nun haben ihre Mitglieder Bekir Alboga und Hakan Aydin (DITIB) sowie Mustafa Hadzic (ZMD) Lehraufträge an Ihrem Lehrstuhl – wie passt das zusammen?
Mouhanad Khorchide: Ich habe mich dafür entschieden, damit wir nicht nur übereinander, sondern miteinander reden. Ich halte es für wichtig, dass muslimische Verbände einen Einblick in unser Zentrum erhalten. Es geht dabei nicht um die Verbreitung von Dogmen und Verbandspolitik an meinem Lehrstuhl, sondern darum, dass sie mit einem Thema, in dem sie spezialisiert sind, einen Beitrag zur Diskussion liefern, wie Herr Alboga zum Thema Interreligiöser Dialog. Das Thema muss zum Lehrplan passen und die Dozierenden müssen sich an diesen halten.
Professor Dr. Mouhanad Khorchide ist Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik an der WWU Münster.