Dozentin sitzt vor einem Laptop und untersucht per Videokonferenz mit Studierenden eine Pflanze mit einer Lupe
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Standpunkt
Präsenzlehre auch in Krisen nicht ersetzbar

In der Corona-Krise wurde an den Hochschulen allerorts die digitale Lehre verordnet. Bei der Umsetzung macht aber der Ton die Musik.

Von Laurenz Lütteken 30.06.2020

Die große epidemische Krise des Jahres 2020, deren Ende nicht absehbar und deren Auswirkung nicht einschätzbar ist, hat die Hochschulen herausgefordert. Im deutschsprachigen Raum hatte dies, in der Deklaration der "digitalen Lehre", Tonlagen zur Folge, die eher einem militärischen Befehl denn besonnener Abwägung ähnlich waren. Seitdem ist vielfach, auch juristisch, über das Thema debattiert worden. Man fühlt sich an andere Dinge erinnert, zum Beispiel an die zwar gescheiterte, aber erbittert aufrechterhaltene Bologna-Reform, die ebenfalls auf dem Verordnungsweg – und gegen die Bedenken der Fakultäten – durchgesetzt wurde. Lehrformate sind Ergebnis von Konventionen, Erfahrungen und Versuchen, und als solche waren und sind sie konsensuale Praktiken. Das ist gut und richtig so. Deswegen unterliegen sie prozessualen Wandlungen: Ein Seminar von 1920 ist mit einem von 1970 oder 2020 mit guten Gründen nicht vergleichbar.

Die Annahme, ein Lehrbetrieb ließe sich mehr oder weniger schlagartig auf digitale Formate umstellen, mag vielleicht ein Wunschtraum jener Technokraten sein, die glauben, Universitäten würden dann besonders gut "funktionieren", wenn man sie nur dirigistisch "führe". Aber sie geht an der Sache vorbei. Das betrifft einerseits die Studentinnen und Studenten, denen auf diese Weise suggeriert wurde, es gebe kein "verlorenes Semester". Man reibt sich verwundert die Augen: In Zeiten einer schweren Krise, in denen das Wohlergehen vieler Menschen auf dem Spiel stand und steht, gilt ein regelkonformer Semesterbetrieb als Dogma? Wie anders hätte der Ton gerade an Hochschulen doch sein können, etwa in dem Sinne, dass man sich mühe, die zweifellos zu erwartenden Einbußen wenigstens gering zu halten.

Das betrifft aber andererseits auch die Lehrenden und das, was sie zu vermitteln haben. Denn dabei handelt es sich nicht einfach um reproduzierbare Wissensblöcke, sondern um Denkformate, allemal in den Geisteswissenschaften. Es geht dort folglich nicht einfach um "Wissen", also um Antworten, sondern vor allem um Fragen – und insbesondere darum, die richtigen Fragen überhaupt erst stellen zu lernen. Dafür sitzt man ritualisiert in einem Raum, und dafür braucht es das, was jetzt "Präsenz" heißt. Was immer Konventionen, Erfahrungen und Versuche daran geändert haben und weiterhin ändern – durch die Berücksichtigung von Tafel und Kreide, von Medien, von digitalen Formaten –, es ist dieses ritualisierte Miteinander nicht ersetzbar, weder durch Verordnungen noch durch Krisen. Wie viel ehrlicher und würdevoller wäre es daher gewesen, wenn man sich besonnener gezeigt hätte: Um die Verluste dieser Erfahrung nicht zu groß werden zu lassen, so viel wie möglich von dieser Präsenz zu retten. So viel Bescheidenheit und Nachdenklichkeit darf man von Hochschulen wohl erwarten, nicht auch, sondern gerade in Zeiten der Krise. Die jüngsten, immer entschiedeneren Verteidigungen dieser "Präsenz" sind daher ein ermutigendes Zeichen.