Illustration eines Mannes, der ein Labyrinth mit einer geraden Straße übermalt
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Regelbrüche
Wie gehen Leitungen mit Illegalitäten um?

Im Hochschulalltag verstoßen Mitarbeiter immer wieder gegen Regeln. Oft halten sie so das System am Laufen. Was steckt dahinter?

Von Stefan Kühl 10.09.2020

Jedes Mitglied einer Hochschule verstößt alltäglich gegen Regeln. Arbeitszeiten werden über den gesetzlich erlaubten Rahmen hinaus ausgedehnt, Ausgaben vor- oder nachdatiert und Budgetposten entgegen offizieller Regeln so verschoben, dass Mittel rechtzeitig abfließen können. Die Reisekosten einer Gastprofessorin werden anders abgerechnet als formal erlaubt, deren verbotene Bewirtung aus einer schwarzen Kasse bezahlt. Mit viel Kreativität werden Leistungen von Studierenden so verbucht, dass sie den Studiengang erfolgreich abschließen können und dafür auch die eine oder andere Regel bis über die Grenze des Erlaubten gedehnt.

Spannend sind an Hochschulen nicht die Regelabweichungen, die vorgenommen werden, um persönliche Vorteile zu erzielen. Unterschlagungen, Bestechungen oder Arbeitsverweigerungen kann die Hochschulleitung abstrafen, ohne dass das die Funktionsweise der Organisation beeinträchtigt. Interessanter sind die vielfältigen Regel­abweichungen, die geschehen, um die Hochschule am Laufen zu halten. Lehrende, Studierende und Verwaltungsmitarbeiter werden an Hochschulen permanent mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert, die nicht alle durch Entscheidungen auf der Formalebene gelöst werden können. Deswegen bilden sich zwangsläufig kleine Schleichwege aus, die häufig nicht nur einen Verstoß gegen die formalen Regeln, sondern auch staatliche Gesetze bedeuten. Der Soziologe Niklas Luhmann spricht von den brauchbaren Illegalitäten in Organisationen.  

"Dienst nach Vorschrift" als Sabotageform

Letztlich stellt erst die alltäglich praktizierte Illegalität sicher, dass Organisationen überhaupt funktionieren. Nicht umsonst gilt der Dienst nach Vorschrift als eine der effektivsten Sabotageformen in Organisationen. Man erinnert sich beim Dienst nach Vorschrift an die überholten, aber nie offiziell aufgehobenen Regeln und blockiert durch deren Anwendung die Organisation. Man hält sich an die vorgeschriebenen Dienstwege und verweigert, zur schnellen Entscheidungsfindung Abkürzungen zu nehmen. Man lässt jeden Vorschlag prüfen, ob dieser auch mit den existierenden formalen Regeln abgestimmt wurde. Die Organisation würde durch die strikte Orientierung an den formalen Strukturen lahmgelegt werden.

"Letztlich stellt erst die alltäglich praktizierte Illegalität sicher, dass Organisationen überhaupt funktionieren."

Die Tragik der Hochschulen besteht – jedenfalls im Vergleich zu Unternehmen, Kirchen oder Vereinen – darin, dass sie wenig autonom sind, wie sie mit Regelabweichungen umgehen können. In Hochschulen besteht aufgrund ihrer staatlichen Verankerung die Möglichkeit, dass eine Regelabweichung von außen skandalisiert wird. Eine Vielzahl von Entscheidungen der Hochschulen – von der Zulassung zum Studium über die Möglichkeit des Rücktritts von Prüfungen bis hin zum Prüfungsausschluss nach Täuschungen, von der Ausschreibung von Stellen bis zur Trennung von Mitarbeitern, von der Ausschreibung von Leistungen bis zur Abrechnung – kann als Verwaltungsakt interpretiert und deswegen als Anlass für Klagen vor den Verwaltungsgerichten genommen werden.

Regelabweichende Prozesse schleichen sich langsam ein

Wir wissen aus der Organisationsforschung, dass Regelabweichungen, die gegen Gesetze verstoßen, für Organisationen besonders prekär sind. Wird ein Gesetzesverstoß durch einen sogenannten "whistleblower" – also einen Mitarbeiter, Leistungsempfänger oder Kooperationspartner, der angesichts eines Gesetzesverstoßes laut in die Trillerpfeife bläst – aufgedeckt, gibt es jedenfalls für Organisationen in der westlichen Welt kaum noch Möglichkeiten, die dann einsetzende rechtliche Prüfung zu unterbinden. Solche Behandlungen von Regel­abweichungen sind für die Organisationen sehr aufwendig, weil die Entscheidungen über die Korrektheit des Verhaltens letztlich außerhalb der Organisation – nämlich von den Gerichten – getroffen werden.

"Es etablieren sich Routinen, ohne dass es jemals einen von oben abgesegneten Masterplan zum Regelbruch gegeben hätte."

Beim öffentlichen Bekanntwerden eines Regelbruchs an einer Hochschule wird immer wieder die Frage gestellt, welcher "Vollidiot" entschieden hat, den Erfolg einer Hochschule so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Aber regel­abweichende informale Prozesse in Hochschulen bilden sich meist – und das wird häufig übersehen – nicht durch eine Entscheidung der Hochschulspitze oder eines Gremiums aus. Sie schleichen sich langsam ein. In der Regel wird nicht irgendwann offiziell entschieden, zur Erreichung der Ziele auch formal oder gesetzlich verbotene Mittel einzusetzen. Man experimentiert zuerst mit kleinen, kreativen Abweichungen, dann werden diese zu einer bewährten Praxis, die gar nicht mehr auf ihre Rechtmäßigkeit hinterfragt wird. Es etablieren sich Routinen, ohne dass es jemals einen von oben abgesegneten Masterplan zum Regelbruch oder zum Gesetzesverstoß gegeben hätte.

Aber auch wenn sich diese illegalen Routinen langsam einschleichen, so ist das Wissen über die Regelbrüche in der Hochschule doch weit verbreitet. Egal ob man sich Skandale über die Verwendung von Drittmitteln, das gnädige Durchwinken von fragwürdigen Promotionen einflussreicher Politiker oder die kreative Verbuchung von Studienleistungen anschaut – immer stellt sich im Nachhinein heraus, dass das Wissen über die Regelbrüche und Gesetzesverstöße an ganz verschiedenen Stellen der Organisation vorhanden gewesen ist. Es ist dann nur eine Frage der internen Recherche, die Wissensspuren bis zur Spitze der Hochschule nachzuvollziehen.

Funktionale Regelabweichungen

Die Frage, warum trotzdem die vielfachen Hinweise auf illegales Handeln in den Hierarchien versandet sind, ist einfach zu beantworten. Die großzügigen Gesetzesinterpretationen und die kleinen Regelabweichungen sind für die Organisation funktional gewesen und wurden daher geduldet. Gleichzeitig haben die Führungskräfte an der Hochschule – jedenfalls wenn sie geschickt sind – darauf geachtet, dass sie von diesen Praktiken offiziell nicht in Kenntnis gesetzt wurden, weil sie sonst für die Abstellung dieser Regelbrüche verantwortlich gewesen wären, womit aber dann wiederum die Einhaltung der Effizienz-, Kosten- und Terminvorgaben schwieriger geworden wäre. "Das will ich gar nicht wissen" ist die Kurzformel, mit der Führungskräfte ihre Haltung gegenüber Untergebenen zum Ausdruck bringen, wenn diese so naiv sind, ihre Vorgesetzten mit Hinweisen auf eine brauchbare Illegalität in der Organisation zu belasten.

Zum Weiterlesen

Im September erschien vom Autor das Buch "Brauchbare Illegalitäten. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen" (Campus). Mit funktionalen Regelabweichungen an Hochschulen beschäftigt sich Prof. Stefan Kühl auch in seinem Buch "Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie" (transcript).